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Auf den zweiten Blick

Auf den zweiten Blick

Titel: Auf den zweiten Blick Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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erzählt?« fragte Cassie.
    Cyrus nickte stolz. »So, wie ich es Will erzählt habe. Und dir.«
    Ein Stechen in ihrer Seite ließ Cassie zusammenzucken. Ihr Körper war nicht mehr in Form. Das Kind stellte schon Forderungen. Sie lächelte über den Schmerz hinweg und stand auf. »Wir können gehen.«
    Cyrus sah sie skeptisch an. »Hast du was gefunden?« fragte et und musterte dabei ihre leeren Taschen, den blanken Spaten.
    In der Vergangenheit hatte Anthropologie für Cassie bedeutet, daß man etwas freilegen und mitnehmen mußte, aber jetzt wurde ihr fast übel bei dem Gedanken, in den Black Hills herumzuhacken. Sie fragte sich, ob man tatsächlich die Erde aufreißen mußte, um eine Kultur freizulegen. Sie stellte sich vor, wie Cyrus’ Urgroßvater sich in seinem Geistertanzhemd drehte; wie Sitting Bull blutend auf dem kalten Stein lag, während ein einsames Zirkuspony ihm zu Ehren tanzte; wie Will auf den Holzdielen hockte und ihn sein Großvater seine Geschichte lehrte. Es gab eine Phrase, die die Sioux als eine Art Segen verwendeten, wenn sie mit einem Ritual fertig waren. Dorothea warf die Wendung bisweilen ein, so, wie Cassie »Gesundheit« sagte, wenn jemand nieste. Stirnrunzelnd wühlte Cassie in ihrem Gedächtnis, bis ihr die Worte wieder einfielen: Mitakuye oyasin - »alle meine Verwandten«.
    Cassie schloß die Augen und zurrte die Enden von Cyrus’ Erzählungen fest; noch einmal sah sie das tanzende Pferd vor sich. »Ja«, sagte sie. »Ich habe gefunden, wonach ich gesucht habe.«
    Der Mann hatte etwas von einem Wiesel, fand Alex. Er hatte glänzende braune Augen und eine spitze Nase, die an Cassie vorwitzig wirkte, Ben Barrett dagegen etwas nagetierhaftes verlieh. Er erzählte gerade dem Reporter von Hard Copy, daß er nie auch nur einen Schnupfen gehabt und ganz bestimmt nicht irgendwo in Augusta auf dem Totenbett gelegen habe, wie dieser Lügner Alex Rivers behauptete.
    »Und noch was«, spuckte Ben Barrett, sein Schwiegervater. »Ich habe das ganze Jahr kein Wort von meinem kleinen Mädchen gehört.« Danach war der Film geschnitten worden, denn als die Kamera wieder auf Ben schwenkte, war sein Blick getrübt. Er nickte schwer. »Er hat irgendwas zu verbergen, jawohl.«
    Alex atmete durch und sank so tief wie möglich in Michaelas Bürosofa. Ein paar Schritte vor ihm marschierte Herb auf und ab und blätterte alle Boulevardzeitungen durch, die es im Supermarkt zu kaufen gab. In jeder wurde eine andere Hypothese über Cassies Verbleib aufgestellt, von einer Entführung bis zum Mord durch Alex’ Hand.
    Es wäre keine große Sache gewesen - Alex hatte schon öfter Verleumdungsklagen gewonnen -, aber Cassie war tatsächlich seit zwei Monaten verschwunden, und dies war ihr eigener Vater. Je mehr Gerüchte aufkamen, desto kritischer beurteilten die Medien Alex’ Gelassenheit und sein Schweigen. Eine Boulevardzeitung hatte sogar den Privatdetektiv, den Alex zuletzt beauftragt hatte, zu einem – vollkommen belanglosen – Kommentar überreden können, woraufhin ihn Alex fristlos gefeuert hatte.
    Cassie hatte ihn dieses eine Mal angerufen, aber das hatte Alex niemandem erzählt. Damit hatte sie seiner Angst um sie die Schärfe genommen, aber trotzdem hatte er an seiner ursprünglichen Vorgehensweise festgehalten. Immer noch ließ er Detektive nach Informationen wühlen. Cassie hatte gesagt, sie rufe wieder an, und vielleicht würde sie das auch tun, aber falls Alex in der Zwischenzeit herausfand, wo sie steckte, konnte nichts ihn aufhalten. Wenn sie das Recht hatte, ihn zu verlassen, hatte er schließlich genausoviel Recht, sie zu überzeugen, daß sie zu ihm zurückkommen sollte.
    Michaela hatte die Ausrede ausgestreut, Cassie sei bei ihrem kranken Vater, und damals, kurz vor der Oscarverleihung, hatte die Geschichte gut geklungen. Nachdem die ersten Detektive keinen einzigen Hinweis auf Cassies Aufenthaltsort aufspüren konnten, hatte Alex seine Lüge sogar zu glauben begonnen.
    Das Video der Hard Copy-Sendung löste sich in schwarze und weiße Streifen auf. Michaela wuchtete sich aus ihrem Sessel und schaltete den Recorder ab. »Tja«, sagte sie, »jetzt ist die sprichwörtliche Kacke am Dampfen.«
    Alex fuhr sich mit dem Finger über die Oberlippe und versuchte, sich nicht so zu fühlen, als sitze er auf der Anklagebank. Herb beugte sich so weit zu ihm vor, daß Alex sehen konnte, wie sich der Speichel in seinem Schnauzer verfing, als er losbrüllte: »Hast du auch nur eine Vorstellung, was das

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