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Auf den zweiten Blick

Auf den zweiten Blick

Titel: Auf den zweiten Blick Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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anrichten kann?«
    »Herb«, gab Alex ruhig zurück, »ich habe eben drei Oscars gewonnen. Das wird man nicht so schnell vergessen.«
    Herb blitzte Alex zornig an und schüttelte den Kopf. »Man wird sich vor allem an das Schlechte, an die Sensationen erinnern. Daran, ob der beste Darsteller seine Frau wohl in Stücke gehackt und im Keller vergraben hat.«
    Alex versteifte sich. »Hör schon auf«, sagte er. Aber in seinem Kopf arbeitete es fieberhaft. Herb und Michaela würden zu ihm stehen, aber sie würden die Wahrheit wissen wollen. Sie würden wissen wollen, warum er sie so lange im dunkeln gelassen hatte.
    Er würde eine saubere Vorstellung vor den beiden Menschen hinlegen müssen, denen er weit genug vertraute, um sich ihnen ohne Maske zu zeigen.
    Michaela ließ sich ihm gegenüber in den Lehnsessel sinken, als habe sie alle Zeit der Welt. Über ihnen pfiff der Deckenventilator. »Okay«, sagte sie und trommelte sich mit den Fingern auf den Bauch. »Raus mit der Sprache.«
    Alex senkte den Blick. Er würde ihnen nicht die ganze Wahrheit verraten, sondern sich auf den Schockeffekt einer Erklärung verlassen, die sie ganz bestimmt nicht erwarteten. »Cassie hat mich verlassen«, murmelte er und ließ den Schmerz, den er so fest in seinem Inneren verzurrt hatte, wieder an die Oberfläche steigen.
    Das gebogene Weidengerüst der Schwitzhütte erinnerte Cassie an ein wolliges Mammut. Irgendwie sahen die krummen Streben fast wie Rippen aus, so als hätte sich ein riesiges Tier mitten ins Nichts geschleppt, um dort zu sterben. Sie setzte sich auf den kalten Boden, schlug das Notizbuch auf, das sie sich vor einem Monat gekauft hatte, und kramte einen Bleistiftstummel aus ihrer Jackentasche. Auf der Suche nach einer leeren Seite ließ sie die Skizzen Revue passieren, die sie zum Zeitvertreib angefertigt hatte, seit sie hier angekommen war: Schädelaufrisse, räumliche Darstellungen ihrer Hand, das in einzelne Schichten aufgeschlüsselte Modell eines Australopithecus, das sie für einen ihrer Kurse kopieren wollte. Aber im Lauf der Wochen, die sie im Reservat verbracht hatte, hatte sich ihr Zeichenstil verändert. Sie zeichnete keine Skelette aus ihrem Fachgebiet mehr. Da gab es ein Bild von Dorothea, die im Schaukelstuhl schlief, eines von einer Büffelherde, die sie nach Cyrus’ Schilderungen gezeichnet hatte, eine Erinnerung aus einem Traum, in dem sie das Gesicht ihres Babys gesehen hatte.
    Vielleicht war es die karge Atmosphäre auf Pine Ridge, die ihren Zeichenstil verändert hatte. In Los Angeles umgab einen so viel Geglitzer, daß es erfrischend war, sich auf das Wesentliche zu beschränken. Aber hier, wo es kaum etwas gab außer dem spartanischen, endlosen Zweierlei von Himmel und Land, reifte jedes gesprochene Wort, jede gesponnene Beziehung und jedes gezeichnete Bild zu etwas von Gewicht heran.
    Cassie steckte sich den Stift hinters Ohr, betrachtete kritisch ihr Mammut und verglich es dann mit dem groben Weidengeflecht, das sie dazu inspiriert hatte. Es war eigenartig, Dinge zu betrachten und - statt alles auf ein Skelett zu reduzieren - sehr viel mehr darin zu sehen, als vor ihrem Auge lag.
    Sie war so vertieft in ihre Mammutzeichnung, daß sie die Schritte hinter sich nicht hörte. »Wenn das ein tatdrjka sein soll«, sagte Cyrus, »dann hast du alles falsch gemacht.«
    Cassie sah zu ihm auf. »Es ist ein Mammut«, erklärte sie. »Kein Büffel.«
    Cyrus kniff die Augen zusammen. »Ein Mammut«, brummte er. »Wenn du meinst.« Er wedelte mit seinem Kreuzworträtselbuch vor ihrem Gesicht herum. »Und - gibst du mir jetzt meinen Stift zurück?«
    Cassie wurde rot. »Ich wollte ihn nicht stehlen. Ich habe keinen anderen gefunden.«
    Cyrus gab einen undefinierbaren Laut von sich und hielt ihr eine Hand hin. »Steh auf«, seufzte er. »Sonst friert sich das Baby noch zu Tode.«
    Cassie winkte abwehrend. »Laß mich noch die Stoßzähne malen. Ich bin gleich fertig.« Sie zeichnete einen Augenblick. »Da.« Sie drehte den Block für Cyrus um. Er schaute auf das Bild einer Schwitzhütte, der ein Rüssel und Stoßzähne aus der Eingangsluke wuchsen. »Wie findest du es?« fragte sie.
    Cyrus rieb sich mit der Hand über den Mund, um ein Lächeln zu verbergen. »Ich finde, es sieht aus wie eine Schwitzhütte«, sagte er. Er nahm Cassies Hand und zog sie hoch.
    »Du hast keine Phantasie«, verkündete Cassie.
    »Das ist es nicht«, widersprach Cyrus. »Ich verstehe nicht, wie ihr Weißen in eine Pfütze schauen

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