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Auf den zweiten Blick

Auf den zweiten Blick

Titel: Auf den zweiten Blick Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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das dunkle Blut auf dem Uniformhemd seines Enkels, als er an jenem Abend nach Hause gekommen war. »Vor langer Zeit kamen Wills Eltern bei einem Autounfall um, den ein verrückter, besoffener wasicun verursachte; deshalb ist er bei uns aufgewachsen. Ich nehme an, irgendwas in ihm ist durchgebrannt, als er sah, wie dieser Mann aus seinem Auto stieg. Er ging rüber und hätte den Kerl um ein Haar totgeprügelt. Drei andere Polizisten mußten ihn wegzerren. Eine Woche später wurde Will gefeuert.«
    Entrüstet baute sich Cassie vor Cyrus auf. »Das ist doch lächerlich. Er hätte sie verklagen können.«
    Cyrus schüttelte den Kopf. »Zu viele Leute wollten, daß Will verschwindet. Du mußt wissen, die Getöteten waren nur auf Besuch hier: es war der Bruder einer Grundschullehrerin mit seiner Familie. Weiße. Und der Fahrer, den Will fast umgebracht hätte, war ein Lakota.« Cyrus pfiff leise durch die Zähne. »Daß eine weiße Familie umgekommen war, war natürlich eine Tragödie, und es stand außer Frage, daß der Fahrer, ob rot oder weiß, vor Gericht gestellt würde. Aber was Will gemacht hatte - daß er so aus der Haut gefahren war –, war ein Fehler. Wills Maßstäbe schienen irgendwie verquer. Plötzlich erinnerte sich jeder daran, daß er iyeska war, halb weiß, und die weiße Hälfte schien die Oberhand zu haben, denn jeder Vollblutindianer hätte bei dem Kerl ein Auge zugedrückt.«
    »Wie kann man so was nur als Rassenproblem sehen?« Cassie verschränkte die Arme vor der Brust. »Was müssen deine Nachbarn von mir halten?«
    »Sie mögen dich«, sagte Cyrus. »Du fügst dich in das Volk ein. Nicht weil du es versuchst, sondern weil du dich nicht dagegen sträubst. Will - Will hat immer Mauern um sich herum gebaut, hat immer ein bißchen abseits gestanden.«
    Cassie dachte an Will, der in Los Angeles genauso isoliert war wie auf Pine Ridge. Sie mußte an die wunderschön bestickten Mokassins und an das Hirschlederbild denken, die er in seinem Apartment in Reseda in Schachteln versteckt hatte. Sie stellte sich vor, wie er auf einen betrunkenen Autofahrer einprügelte, bis seine Knöchel wund und aufgeschürft waren, bis Blut seine Uniform bedeckte, bis niemand mehr sagen konnte, ob der Mann ein Lakota oder ein Weißer war. Sie mußte daran denken, was sie wohl zu ihm gesagt hätte, wenn sie all das schon früher erfahren hätte: daß man, wie sie inzwischen aus eigener Erfahrung wußte, nicht einfach die Augen zukneifen und so tun konnte, als würde ein Teil seines Lebens nicht existieren.
    Gedankenverloren bückte sich Cassie und hob einen Weidenzweig auf, den ein Sturm abgerissen hatte. Sie bog den Zweig in den Händen und dehnte ihn bis an die Grenze seiner Belastbarkeit, während sie darüber nachdachte, was Cyrus ihr erzählt hatte. Und als der Zweig schließlich brach, überraschte sie das kein bißchen.
    Will kam einfach nicht von Alex Rivers los. Sein Name stand in jeder Zeitung, jeder Zeitschrift, überall im Supermarktregal. Er hätte wetten können, daß er Alex’ Gesicht inzwischen besser kannte als Cassie, so oft hatte er es gesehen. Langsam begann ihm der Typ sogar leid zu tun. Auf eine Erklärung von Cassies Vater hin waren Gerüchte aufgekommen. Um Cassie wurde inzwischen ein allgemeines Rätselraten veranstaltet, und Alex mußte die Folgen tragen.
    In diesem Artikel hier stand, daß die japanischen Finanziers von Macbeth ihre Gelder zurückgezogen hätten, so daß Alex als Alleinschuldner für einen Flop von vierzig Millionen Dollar geradestehen mußte. Angeblich stand sein Apartment in Malibu schon zum Verkauf. Seine nächsten zwei Filmverträge waren aufgelöst worden; daß er sich nicht zu Cassies Verschwinden äußerte, wurde überall mißbilligt und entweder auf seine Schuld oder auf eine krankhafte Karrierebesessenheit zurückgeführt, die alles andere auslöschte. Eine Zeitung ließ sogar gehässig durchblicken, daß Alex Rivers, der Oscargewinner, bestimmt nur deshalb keine Arbeit finden konnte, weil er nicht lange genug nüchtern blieb, um sich ein anständiges Drehbuch zu suchen.
    Will faltete die Zeitung zusammen und klemmte sie hinter die Sonnenblende des Einsatzwagens. »Wie lange noch?« fragte er Ramon, mit dem er immer noch Dienst schob.
    Ramon stopfte sich die Reste seines Spiegelei-Sandwichs in den Mund und schaute auf die Uhr. »Zehn Minuten. Dann geht’s los.«
    Heute hatte man ihn auf einen Wohltätigkeitsball beordert. Der Ball wurde von einer Organisation

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