Auf den zweiten Blick
könnt und uns dann erzählen wollt, es sei der Ozean.«
Cassie ging neben ihm her. »Vielleicht sollte ich eine Schwitzzeremonie beobachten«, schlug sie beiläufig vor, in der Hoffnung, daß Cyrus vielleicht eher zustimmte, wenn sie sich gleichgültig stellte. Für eine Anthropologin war ihr Interesse ganz natürlich, hatte sie sich eingeredet. Zu gern hätte sie gewußt, was in den Hütten - eine Hinterlassenschaft der Jungen, die unter der Aufsicht eines Medizinmannes fasteten, um sich selbst zu verstehen - vor sich ging. Sie hatte gesehen, mit welcher Ehrfurcht der älteste Sohn von Linda Laughing Dog sich auf das Ritual vorbereitet hatte. Ausgelaugt und erschöpft, aber innerlich glühend war er zurückgekommen, als habe er endlich begriffen, wie er die Stücke zusammensetzen mußte, aus denen sein Leben bestand.
Wenn es nur so einfach wäre.
»Ecütj picäsni yelö«, sagte Cyrus. »Das ist unmöglich.«
»Es wäre ein wirklich vielversprechendes Forschungsfeld -«
»Nein.«
»Ich könnte ja draußen -«
»Nein.«
Cassie warf ihm ein Lächeln zu, und für einen Moment vergaß Cyrus, daß sie Urwelttiere in den Überresten von Schwitzhütten sah, daß sie mit jedem nur erdenklichen Trick versuchte, Zugang zu den Lakota-Mannbarkeitsriten zu erlangen. Ihm ging durch den Kopf - und das nicht zum ersten Mal -, wie eigenartig es war, daß Cassie, die sich einen festen Platz in seiner Familie geschaffen hatte, durch Will zu ihnen gekommen war, der immer nur fortgewollt hatte.
Kopfschüttelnd hob Cyrus die Arme über den Kopf. Er legte das Kreuzworträtselbuch auf das Gerüst der Schwitzhütte und machte sich auf den Weg über die Anhöhe, die östlich des Hauses aus dem Boden wuchs. »Leci u wo«, sagte er. »Komm mit.« Vor einem kleinen Gehölz am Fuß eines größeren Hügels blieb er stehen. »Hier hat Will seine Schwitzhütte gebaut«, sagte er.
»Will?« fragte Cassie überrascht. »Ich hätte nicht gedacht, daß er so was macht.«
Cyrus zuckte mit den Achseln. »Er war jung.«
»Das hat er mir nie erzählt.« Aber noch während sie das sagte, begriff Cassie, daß Will zwar ihr Privatleben bis in die intimsten Details kannte, daß es aber eine Unmenge gab, was sie von Will Flying Horse nicht wußte. Sie versuchte, sich Will im Alter von Linda Laughing Dogs Sohn vorzustellen, mit dichtem, schwarzem Haar, das ihm über die Schultern hing, und Muskeln, die erst allmählich zu denen eines Mannes heranwuchsen. »Hat es funktioniert?«
Cyrus nickte. »Aber das würde er nie zugeben«, sagte er. »Mein Enkel meint, er kann seine Zugehörigkeit zum Volk ablegen wie eine alte Jacke.« Er stand mit dem Gesicht im Wind, und Cassie beobachtete, wie er mit seinen Händen die Luft umschloß, als wolle er verhindern, daß alles so schnell vorbeiflog.
»Ist er deshalb weg?«
Cyrus drehte sich zu ihr um, musterte sie scharf mit seinen schwarzen Augen. »Meinst du nicht, das sollte dir Will selbst erzählen?«
»Ich meine, Will würde alles tun, um mir das nicht erzählen zu müssen«, antwortete sie bedächtig.
Cyrus nickte; er konnte ihr da nicht widersprechen. »Du weißt, daß Wills Mutter eine wasicun winyan war, genau wie du«, sagte er. »Du weißt, daß Will bei der Stammespolizei gearbeitet hat, bevor er wegging.« Er machte einen Schritt nach vorne; er war bereit, Cassie die Geheimnisse seines Enkels zu verraten, aber er konnte ihr dabei nicht in die Augen sehen. »Bei der Stammespolizei ist es wie bei vielen kleinen Polizeidienststellen, schätze ich. Sie machen den üblichen Kram – kommen bei Ehestreitigkeiten, bringen die Besoffenen heim, passen auf, daß die Kinder unten am See kein Bier trinken. Und sie schauen öfters weg, wenn das angeraten scheint - du weißt schon, sie wollen nicht, daß einer von ihren Leuten Ärger kriegt, also verpassen sie denen eher eine Verwarnung als eine Strafe.
Will war ein guter Polizist. Er war vielleicht fünf Jahre dabei. Jeder hat ihn gemocht, und das war wichtig für Will.« Cassie nickte; das verstand sie. »Vor etwa fünf Monaten gab es mitten in Pine Ridge einen schweren Unfall. Ein betrunkener Kerl drängte mit seinem Auto einen anderen Wagen von der Straße. Eine vierköpfige Familie kam dabei um. Dann wickelte er seinen Jeep um den Telefonmast vor dem Laden. Natürlich stieg er ohne einen Kratzer aus seinem Auto.«
Cyrus schloß die Augen, als er sich an die Sirenen der klapprigen Polizeiwagen erinnerte, die er damals sogar im Schlaf gehört hatte; an
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