Auf den zweiten Blick
Fuß über die Klippe, hielt sich an einem Felsen fest, suchte nach einem Halt für ihre Zehen und begann so ihren Abstieg ins Tal. Sie fuhr mit den Händen über die marmorglatte, von Flechten geäderte Felswand.
»Wir hätten ein Geistertanzhemd mitnehmen sollen«, rief Cyrus ihr von oben zu. »Damit dich die bösen Geister nicht holen können.«
»Gute Idee«, antwortete Cassie keuchend. Sie hatte nicht die leiseste Ahnung, wovon er redete. »Und wenn ich eins finde, mache ich ein Vermögen, indem ich sie den Untergangspredigern auf der Avenue of the Stars verkaufe.« Sie kletterte eine weitere Sprosse der steinernen Leiter hinab und vertrat sich fast den Fuß, als sie auf die glatten, runden Felsen unten am Talgrund trat.
»Lach nicht«, erklärte Cyrus. »Es gab wirklich Hemden, die das Volk unbesiegbar machen sollten. Mein Urgroßvater hatte eins. Um 1880 war das eine richtige Mode. Die Hemden gehörten zu einem neuen Tanz, der uns die toten Krieger und die Büffel zurückbringen sollte, eine ganz neue Welt ohne den weißen Mann.« Cyrus stand auf und beugte sich über den Rand des Abhangs. »Willst du was von dem Hackbraten?« rief er.
»Nein«, antwortete Cassie. Sie schirmte sich die Augen mit der Hand ab. Er war sieben Meter über ihr und beobachtete sie von oben, als könne sein Interesse sie vor Schaden bewahren. »Iß ihn ruhig auf.«
»Na ja, jedenfalls brachte mein Urgroßvater den Geistertanz von einem Medizinmann der Painte zu den Sioux zurück. Und er hatte dieses Hemd dabei, mit Sonne, Mond, Sternen und Elstern drauf. Dorothea hat es irgendwo verstaut. Solange man dieses Hemd trug, konnte einem nichts passieren.«
»Wie eine Hasenpfote«, kommentierte Cassie, während sie mit ihrer Spitzhacke in einer kleinen Felsspalte herumstocherte. Selbst wenn sie tatsächlich etwas finden sollte, dachte sie bei sich, dann wahrscheinlich ein Mastodon, keinen Urmenschen.
»Yeah«, sagte Cyrus. »Bloß daß es nicht so funktionierte, wie es sollte. Die Weißen dachten, wenn die Sioux eine so große Medizin haben, dann planen sie bestimmt einen Angriff. Also erklärten sie dem Volk, daß es den Geistertanz nicht tanzen dürfe.«
Cassie spürte, wie ihr die Sonne auf den Scheitel brannte, und mußte an Tansania und an ihre ersten Tage zusammen mit Alex denken. Damals hatte sie auch geglaubt, daß ihnen nichts passieren könne; daß sie wahrhaft unbesiegbar seien. Wie sollte ausgerechnet sie über ein Geistertanzhemd urteilen? Liebe konnte, wenigstens am Anfang, ein mindestens genauso mächtiger Zauber sein.
»Kennst du die Geschichte von Sitting Bull?« fragte Cyrus. »So ist er gestorben. Er lebte nach den alten Regeln, tanzte den Geistertanz auf dem Standing Rock, und die Leute von der Regierung brachten die Stammespolizei dazu, ihn deshalb zu verhaften. Seine eigenen Leute.« Er schüttelte den Kopf. »Als er sich wehrte, fingen sie an zu schießen. Sitting Bull starb, und die meisten Sioux, die bei ihm waren, auch.«
Cassie schaute auf, als Cyrus zu lachen begann; damit hatte sie direkt nach dieser Geschichte am allerwenigsten gerechnet. Ihre Spitzhacke verharrte in der Luft. »Das mußt du dir vorstellen«, sagte Cyrus. »Alle stehen herum und versuchen zu begreifen, was da passiert ist - und plötzlich taucht ein Pferd auf und fängt an, im Kreis herumzutänzeln.«
»Sitting Bulls Pferd?« fragte Cassie gebannt.
Cyrus nickte. »Bevor er ins Reservat kam, war er lange mit Buffalo Bill Codys Wild West Show rumgezogen, und dieses Zirkuspony war ein Abschiedsgeschenk. Also, als die Schüsse fielen, die Sitting Bull töteten, kommt dieses Pferd von irgendwoher angetrabt und fängt mit seiner Nummer an. Offenbar hat die Show auch so begonnen.«
Cassies Hand war herabgesunken. Sie merkte, daß sie nur noch lauschte: Cyrus, seiner Geschichte und dem Schrei eines Falken irgendwo in der Ferne. Langsam steckte sie ihre Hacke zurück in die Gürtelschlaufe und machte sich an den Aufstieg aus dem ausgebleichten Tal.
Oben sank sie neben Cyrus nieder, rieb sich die Arme und versuchte, sich wenigstens eine Anekdote ins Gedächtnis zu rufen, die sie von ihrer Mutter gehört hatte und die andeutete, daß sie aus einem Geschlecht stammte, das stärker als ihre Eltern war. Aber Cassie fielen lediglich die Erzählungen von jener Südstaateneleganz ein, die es, wie sie später erfahren hatte, gar nicht gab, und das erschöpfte Lallen, mit dem ihre Mutter oft mitten im Satz abbrach. »Hat dir das dein Großvater
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