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Auf den zweiten Blick

Auf den zweiten Blick

Titel: Auf den zweiten Blick Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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lächelte nicht mehr. »Du fehlst mir so sehr.« Und sie legte auf, bevor er hören konnte, wie sie zerbrach.
    Alex starrte seine Oscars an. Die Beweise für seinen Erfolg lagen verstreut am Boden, hatten beim Aufprall das Parkett verschrammt. Die letzte Statuette stand neben dem Telefon. Cassie hatte die Verbindung unterbrochen; nur das eintönige Tuten blieb. Alex hätte nicht sagen können, wann er zu weinen begann. Eine Stunde lang klammerte er sich an den Hörer wie an ein Glücksamulett, während ihn die ungerührte Stimme der Vermittlung immer wieder ermahnte, aufzulegen und es von neuem zu versuchen.

22
     
    Cyrus hatte die dritte Klasse acht Jahre lang wiederholt, nicht weil er geistig beschränkt gewesen wäre, sondern weil in den zwanziger Jahren die Schule im Reservat mit der dritten Klasse endete. Er besaß Grundkenntnisse im Lesen und Schreiben, aber beim Rechnen mußte er sich aufs Addieren und Subtrahieren beschränken, und beim Schreiben richtete er sich meistens nach dem Gehör. Sein Spezialgebiet war Geschichte - nicht, wie er Cassie erklärte, die Geschichte des weißen Mannes, die ihnen missionarische Lehrer mit ihren Lehrbüchern einzutrichtern versucht hatten, sondern die echte Geschichte.
    Weil Dorothea sehr viel Zeit in der Cafeteria verbrachte, war Cassie oft allein mit Cyrus. Sie hatte den Eindruck, daß er ihre Gesellschaft genoß; er legte dann sein Strickzeug beiseite, manchmal schnitzte er bei ihren gemeinsamen Spaziergängen, aber meistens unterhielten sie sich einfach. Er erzählte ihr Geschichten, die er von seinem Vater gehört hatte – indianische Sagen, Abenteuergeschichten über Crazy Horse, Quasi-Augenzeugenberichte von der Schlacht am Little Bighorn und von der Tragödie am Wounded Knee.
    Gestern hatte Cassie Cyrus gebeten, sie zu den Faha Sapa, den Black Hills, zu bringen. Sie wußte, daß man in der Nähe Fossilien gefunden hatte und daß es Auseinandersetzungen darüber gegeben hatte, ob die Fundstücke vom heiligen Boden des Reservats entfernt werden durften. Natürlich plante sie keine riesige Ausgrabung, die der Stammesrat garantiert nicht genehmigen würde, aber es juckte sie in den Fingern, wenigstens einen Hinweis darauf zu entdecken, daß da etwas unter der Oberfläche - dem schartigen Fels, der wuchernden Vegetation – verborgen lag. Sie fühlte sich verpflichtet, die Gelegenheit zu nutzen, da sie nun schon einmal bei den Sioux lebte, nur ein paar Meilen von deren alten Begräbnisstätten entfernt. Seit Jahren versuchten ihre Kollegen vergeblich, Zugang zu derartigen Orten zu bekommen.
    Heute hatte sie sich Abel Soaps alten Armeejeep ausgeliehen und ein Picknick eingepackt. Nur für alle Fälle, wie sie sich einredete, hatte sie auch eine Hacke und einen Spaten mitgenommen, die Abel für sie aus seinem Alteisenschuppen gezogen hatte. Cyrus hatte sich in den Jeep geschwungen wie ein junger Mann. »Weißt du«, sagte er, »bei uns glauben die Kinder, daß in den Badlands das Schreckgespenst wohnt.«
    Cassie hatte gelächelt. »Das Risiko gehe ich ein.«
    Aber ein paar Stunden später, beim Anblick der fremdartigen, glattgeschliffenen Felsenlandschaft, konnte sie sich gut vorstellen, daß Kinder mit ihrer ausgeprägten Empfänglichkeit für derartige Geschichten so etwas glaubten. Im Unterschied zu den Felsgipfeln und -türmen der Black Hills waren die Badlands flach und tief, wie eine Mulde voller riesiger Felsen, die im Lauf der Zeit miteinander verschmolzen waren. Der Wind stöhnte in den Kiefern, die vereinzelt um den oberen Rand standen, und wirbelte durch das unwirtliche Tal.
    »Du willst da runter?« fragte Cyrus, der sich zu Cassie an den Rand des Abhangs gestellt hatte.
    Cassie warf ihm einen Blick zu. »Warum? Kommst du mit?«
    »Teufel, nein«, sagte Cyrus. »Ich kann mir einen besseren Ort zum Sterben vorstellen.«
    Seine Worte jagten ihr eine Gänsehaut über den Rücken. »Wie meinst du das?« fragte sie, aber Cyrus war schon wieder zum Heck des Jeeps zurückgekehrt und konnte sie nicht hören.
    Er kam mit ihrer Hacke und ihrer Schaufel zurück und streckte ihr beides entgegen. »Willst du die mitnehmen?«
    Cassie nickte und steckte beides in den Gürtel, den sie sich von Cyrus geborgt hatte. Seit sie nicht mehr in ihre Sachen paßte, war sie dazu übergegangen, die von anderen Leuten zu tragen. Sie schaute zu, wie Cyrus ein Stück kalten Hackbraten aus dem Picknickkorb holte und sich im Schneidersitz an den Abhang setzte. Vorsichtig schob sie ihren

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