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Auf den zweiten Blick

Auf den zweiten Blick

Titel: Auf den zweiten Blick Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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ganz am Anfang. Deshalb mußte ich noch einmal weglaufen.« Sie sah auf Connors Kopf hinab. »Deinetwegen wäre ich nie gegangen, Alex. Ich habe dich nur wegen des Babys verlassen.«
    Alex’ Mund wurde schmal, und an seinem Hals begann ein Muskel zu zucken. Alles begann sich um ihn zu drehen, und seine Beine trugen ihn nur noch mit Mühe. Ein Sohn? Sein Sohn? Für einen flüchtigen Moment tauchte das Bild seines Vaters vor ihm auf, der ihn schadenfroh ausgelacht hatte, als ein tiefer Zypressenast ihn von der Piroge in den dunkelbraunen Schlamm des Sumpfes gefegt hatte. Er sah das breite Grinsen vor sich und hörte das hämische, lärmende Lachen, während sein Vater ihm die Hand entgegenstreckte, um ihn wieder ins Boot zu ziehen. Er wußte noch, wie zuwider es ihm gewesen war, die Hand seines Vaters ergreifen zu müssen, keinen anderen Ausweg zu haben.
    »Denk gar nicht daran, Alex«, warnte ihn Cassie sanft. »Du bist nicht wie er. Ich kann es beweisen.«
    Alex sah im selben Moment auf, als Cassie das zappelnde Kleinkind in seine Arme fallen ließ. Automatisch fing er Connor unter dem Popo und unter den Schultern auf und begann ihn zu wiegen, damit er nicht zu weinen begann. Ganz allmählich schlossen sich seine Finger streichelnd um die Babyhaut. Das Baby roch nach Creme und Puder aus der Windel und nach etwas Namenlosem, das er nur als Rosa beschreiben konnte. Connor öffnete die Augen - silbern. Das Spiegelbild verblüffte ihn so, daß sich Alex beinahe an einem Lachen verschluckt hätte. Er hätte gern gewußt, ob sein Vater oder seine Mutter oder irgendwer sonst ihn jemals so gehalten hatte. Vielleicht machte es ja den entscheidenden Unterschied, wenn man sich vom ersten Tag an richtig verhielt.
    Alex wäre am liebsten sofort nach Rapid City abgefahren, um von dort den nächsten Flug nach Los Angeles zu nehmen, aber Cassie hatte ihm schlicht erklärt, daß das unmöglich sei. »Ich habe Freunde hier«, hatte sie gesagt. »Ich kann nicht einfach verschwinden.« Sie hatte ihm die Hand auf den Arm gelegt. »Wenn ich schon keine zwei Wochen mehr haben kann, gib mir wenigstens bis morgen früh.« Sie bemerkte den Anflug von Enttäuschung in seinen Augen, als sie ihm erklärte, daß sie ihn nicht in sein Motel begleiten würde, weil sie ihre letzte Nacht lieber bei den Flying Horses verbringen wollte. Aber getreu seinem soeben gegebenen Versprechen hatte Alex nur genickt, sie zum Abschied geküßt und versprochen, am nächsten Morgen vor der Schule auf sie zu warten.
    Einige Minuten lang war Cassie mit Connor auf der Schulter stehengeblieben und hatte zugesehen, wie Alex’ Bronco in einer Wolke roten Dakota-Staubes verschwand. Dann setzte sie das glücklichste Lächeln auf, dessen sie fähig war, und schob die Haustür auf.
    Cyrus strickte wieder, und Dorothea hackte eine Ingwerwurzel für den Eintopf, den es abends geben sollte. Will war nirgends zu sehen, und das überraschte sie, denn das Haus hatte nur eine Tür, und vor der hatten Alex und sie die ganze Zeit gestanden. Dorothea sah auf, als sich die Tür mit einem Flüstern schloß. »Du gehst also mit ihm zurück in die große Stadt«, sagte sie.
    Cassie steckte Connor in sein Wiegenbrett und ließ sich neben Cyrus auf das Sofa sinken. »Ich muß«, antwortete sie. »Alles andere wäre nicht fair.«
    Dorothea zielte mit dem Küchenmesser auf Cassie. »Wie mir scheinen will, war er auch nicht immer fair zu dir.«
    Cassie ging gar nicht auf Dorothea ein. Morgen wäre sie wieder in L. A. Als erstes würde sie in ihr Büro gehen und mit Custer sprechen; dann würde sie Ophelia besuchen. Sie würde in aller Stille einen Notruf oder eine Beratungsstelle anrufen und nach angesehenen Therapeuten in ihrer Gegend fragen. Sie würde einen Babysitter für Connor brauchen… hier riß ihr Gedankenfaden ab, und sie lachte. Bestimmt würde sich unter Alex’ Personal ein Mensch finden, der eine oder zwei Stunden auf ein Baby aufpassen konnte.
    Aber die Wahrheit war, daß sie nach all den Jahren niemand aus Alex’ Personal so gut kannte, wie sie Dorothea und Cyrus in nur sechs Monaten kennengelernt hatte. Und Will – nun, sie würde versuchen, es Will begreiflich zu machen, aber sie wußte, wie wütend er sein würde. Sie mußte daran denken, wie er sie während ihrer Schwangerschaft auf dem Pony eines sechs Jahre alten Cousins durch den Korral geführt hatte, wie er neben ihr auf dem Sofa gesessen hatte, als ihre Fruchtblase platzte und das Fruchtwasser seine Jeans

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