Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Auf den zweiten Blick

Auf den zweiten Blick

Titel: Auf den zweiten Blick Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
Vom Netzwerk:
Will erinnerte sich vage an das Jahr nach dem Tod seines Vaters. Seine Großeltern hatten eisern gespart, um allen zu zeigen, wie sehr sie ihren Sohn geliebt hatten.
    Ihm fiel wieder ein, daß ihm Joseph Stands In Sun damals, als sein Vater gestorben war, vom Geisterbesitz erzählt hatte, jenem größten Geschenkritual, das noch aus den Tagen des Büffels stammte. Wenn eine Familie ein Kind verlor, gab man sich nicht damit zufrieden, ein Jahr lang Nahrung und Felle und Werkzeuge zu sammeln. Zusätzlich verschenkten die Eltern im Gedenken an den über alles geliebten Menschen ihre Pferde, ihr Tipi, selbst die Kleider, die sie am Leibe trugen, an andere Stammesmitglieder. »Man gibt so lange, bis es schmerzt«, hatte Joseph gesagt.
    Gehetzt begann Will hinten in seinem Pick-up herumzukramen, fand aber wenig von Wert, abgesehen von einem alten Gewehr und einer Lammfelljacke, die seinem Vater gehört hatte. Wie ein Besessener raste er durch die Stadt, bis er bei Bernie Collier ankam, einem Nachbarn, den er noch nie gemocht hatte. Er donnerte mit der Faust an die Tür, bis sie unter seinen Schlägen aufschwang.
    »Will«, sagte Bernie mißtrauisch, während er Wills ungekämmtes Haar und das aus der Hose hängende Hemd musterte.
    »Ich habe was für dich, Bernie«, erklärte Will und drückte ihm das Gewehr in die Hand. »Keine Angst, es ist kein Haken dran.«
    Bevor Bernie antworten konnte, machte er auf dem Absatz kehrt, sprang in den Pick-up und jagte weiter zum Haus der Laughing Dogs.
    Linda Laughing Dog runzelte die Stirn, als sie ihn sah, und versuchte, die Whiskeyfahne wegzuwedeln. »Komm rein, Will«, begrüßte sie ihn. »Ich mach’ dir Kaffee.«
    »Kein Kaffee«, lehnte Will ab. »Ich will dir was schenken.« Er hielt die Lammfelljacke hoch. »Stell dir nur vor, wie viele Kinder du in dem Ding durch den Winter kriegst«, sagte er. »Sie gehört dir. Mach damit, was du willst.«
    Rydell Two Fists weigerte sich standhaft, den Pick-up anzunehmen, darum ließ sich Will auf dem Baumstumpf vor seiner Holzhütte nieder und heulte dort wie ein kleines Kind, bis er eine Idee hatte, was er mit den Schlüsseln machen konnte. Er ging hinter das Haus zu der alten, knorrigen Kiefer, wo Rydell und Marjorie ihren kläffenden Köter angebunden hatten, und fädelte den Schlüsselring in das Hundehalsband, ohne das Tier auch nur aufzuwecken.
    Das Verschenken half; langsam merkte er das. Als er durch den Wald zu Joseph Stands In Suns Hütte lief, fühlte er sich so frei wie schon seit Monaten nicht mehr. Im Laufen zog er sich die Jacke aus. Er ließ seinen Hut an einer Wäscheleine, seine Stiefel vor der Hütte eines Unbekannten. Sein Hemd schenkte er einem kleinen Mädchen, das gerade einen Eimer Wasser zum Haus ihrer Eltern schleppte.
    Als er Jospehs Hütte erreicht hatte, trug er nur noch seine Jeans und seine Unterhose und bibberte vor Kälte. Er hatte eindeutig zuwenig getrunken, dachte er, wenn er immer noch die Kälte spürte und sich schämte, anzuklopfen und dem Medizinmann seine letzten Kleider zu schenken. Statt dessen zog er sich splitternackt aus, faltete seine Jeans und seine Unterhose pedantisch zusammen und ließ sie in einem ordentlichen Stapel vor Josephs Tür liegen.
    Er lief los, wohin ihn seine Beine trugen. Disteln und Kiefernzapfen schnitten seine Füße blutig; trotzdem lief er weiter. Er war ein Tier. Er war primitiv. Er konnte nicht denken, er konnte nicht fühlen. Er kam an ein hohes Felsplateau, das ihm vollkommen unbekannt vorkam; dort warf er den Kopf in den Nacken und schrie seinen Schmerz hinaus.
    Er hatte nur noch eines zu geben. Es war zwar vollkommen wertlos, aber es war besser als nichts. Immer wieder brüllte Will die Worte, auf englisch und auf lakota, er schluchzte und kratzte sich die Haut auf, weil er auf keinen Fall vergessen wollte, wie weh es tat, noch hier zu sein, obwohl sie fort war. »Imacu yo«, rief er den Geistern zu. »Nehmt mich!«

25
     
    Die Reporter und Fotografen an der Sicherheitsschleuse im Flughafen von Los Angeles schlossen Wetten ab. »Ich behaupte immer noch, er ist sie losgeworden«, meinte ein Mann vom National Enquirer. »Und zwar sechs Fuß tief.«
    Die Reporterin von People schniefte. »Und warum dann dieses ganze Trara, daß sie zusammen nach L. A. zurückkommen?«
    »Wenn ihr mich fragt«, mischte sich ein Kameramann ein, »dann kommen sie zwar zusammen zurück, aber ihr wird das nicht gefallen. Ich glaube, er hat sie ausbezahlt. Was sind schon ein paar

Weitere Kostenlose Bücher