Auf den zweiten Blick
Vergangenheit nicht entkommen, sosehr ich es auch versucht habe. Und genausowenig kann es Alex - und du auch nicht.«
Cassie wußte, daß der Rat, den sie Will gegeben hatte, genausogut auf ihre Situation paßte. Außer der eigenen Vergangenheit gab es im Grunde nichts, was man als Leitfaden für sein Leben nehmen konnte. Es gab keinen neuen Anfang. Man konnte nur die Scherben zusammenlesen, die ein anderer hinterlassen hatte.
»Und genau deshalb«, flüsterte Cassie mit erstickter Stimme, »muß ich zurück.«
Nachdem sich Cassie frühmorgens von Cyrus und Dorothea verabschiedet hatte, fuhr Will sie und Connor zu Alex in den Ort. Connor hatte die Fahrt über gequengelt, und Cassie legte ihn Will in die Arme; sie wußte, daß Alex von der anderen Straßenseite aus zusah, und war froh, daß Connor ihr mit seinem Weinen einen Vorwand für diese Geste gab. Nach allem, was Will so selbstlos für sie und Connor getan hatte, konnte sie nicht verschwinden, ohne ihn das Baby ein letztes Mal halten zu lassen.
Zwischen ihnen herrschte brüchiger Friede. Cassie kramte im Handschuhfach herum und tat so, als würde sie nachsehen, ob sie auch nichts darin vergessen hatte. Auf dem Nebensitz rieb Will über Connors zarten Rücken. »Und«, meinte Cassie munter, »du schreibst mir, wo du gelandet bist?«
Will sah sie an. »Hab’ ich dir doch versprochen.«
Cassie nickte. »Ja, das hast du.« Sie streckte die Arme aus. Als Will das Baby hineinlegte, berührten sich ihre Hände. Dann schaute sie durch die Windschutzscheibe und versuchte, sich den Anblick ins Gedächtnis einzuprägen: den Flaggenmast vor der Schule, den heißen, roten Dreck in den Reifen des Lasters vor ihnen, Wills Hut, der ihm tief in der Stirn saß. »Ich werde das Reservat vermissen«, erklärte sie.
Will lachte. »Aber höchstens zehn Minuten«, sagte er. »Es läßt sich leicht vergessen, glaub mir.«
Cassie schlang die Hand durch die Henkel von Connors Wickeltasche. »Nun, dann werde ich eben dich vermissen.«
»Das«, meinte er grinsend, »wird hoffentlich länger als zehn Minuten dauern.«
Cassie lehnte sich über den Sitz und schlang den freien Arm um Wills Hals. Will drückte sie an sich, nahm den zarten Grasduft ihres Haares mit, den weichen Schwung ihrer nackten Schulter, den Klang ihrer Stimme. Connor lag zwischen ihnen wie das gemeinsame Herz siamesischer Zwillinge.
Alex trennte sie wieder. Cassie hörte seine tiefe Stimme durch ihr offenes Fenster, vor dem er sich aufgebaut hatte. »Es tut mir ja leid«, sagte er, »aber ich möchte den Flug nicht verpassen.«
Will gab sie frei. Er sah Alex an, nickte. Er berührte die taukühle Wange des Babys.
»Danke«, erklärte Alex wohlwollend. Er nahm Cassie das Kind aus den Armen und hob es durchs Fenster, als wisse er, daß sie ihm auf diese Weise ganz bestimmt folgen würde. »Vielen Dank, daß Sie sich meiner Familie angenommen haben.«
Meiner Familie. Will kniff die Augen zusammen. Er sagte lieber nichts.
Alex legte Connor an seine Schulter und schaute Will noch mal an. »Ich kenne Sie«, sagte er bloß.
Will grinste breit. »Ich habe einmal bei einer Rauferei von Ihnen eingegriffen. Ich war bei der Polizei.«
»So«, sagte Cassie zu beiden, und Will sah sie an. Immer bereit, Frieden zu stiften.
Sie sagte nichts weiter, aber sie stieg auch nicht sofort aus. Statt dessen zog sie sich in jenen vertrauten Bereich zurück, wo man keine Worte braucht. Sie sahen sich in die Augen. Ich liebe dich, dachte Will.
Ich weiß, antwortete Cassie. Aber noch während er diesen winzigen Triumph genoß, ließ sie sich aus dem Sitz gleiten und verschwand aus seinem Leben.
Als das Flugzeug mit den Rivers’ an Bord planmäßig in Rapid City abhob, war Will betrunken wie noch nie in seinem Leben. Bevor Cassie mit ihrem Mann und ihrem Sohn in L. A. landete, wollte er bewußtlos sein.
Er verfluchte sich dafür, Cassie vor diesem gottverdammten Friedhof aufgelesen zu haben. Er verfluchte sich, weil er aus dem Los Angeles Police Department ausgeschieden war, wo er sie wenigstens im Auge hätte behalten können. So, wie die Dinge jetzt standen, war sie für ihn gestorben. Oder so gut wie gestorben.
Dieser Gedanke ließ ihn nicht ruhen. Es gab einen weitverbreiteten Brauch im Volk, das Verteilen, das am ersten Todestag eines Verwandten stattfand. Die trauernde Familie bezeugte ihren Respekt vor dem Toten, indem sie an möglichst viele Menschen Geschenke und Essen verteilte, das sie sich vom Mund abgespart hatte.
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