Auf den zweiten Blick
hat dich keine Sekunde alleingelassen.«
»Na ja«, meinte Dorothea versonnen, »es hat dich abgeschreckt.«
Plötzlich lachte Cyrus auf. Dorothea rollte sich zu ihm herum und legte ihm die Hand auf den Mund. »Willst du sie aufwecken?« zischte sie, doch Cyrus lachte immer noch.
»Ich muß nur daran denken, was die Alte sagte, als ich sie fragte, wie ich dich dazu bringen könne, mich zu erhören.« Er stützte sich auf einen Ellbogen. »Sie erklärte mir, ihr Mann habe ihr zu Ehren einen Büffel getötet.«
»In den Dreißigern gab es aber keine Büffel mehr«, flüsterte Dorothea grinsend.
Cyrus lächelte. »Deine Großmutter meinte, das sei mein Problem, nicht ihres.« Sie lachten beide. »Wenigstens war sie so nett, früh genug einzuschlafen, daß ich dich küssen konnte.« Cyrus beugte sich über Dorothea und strich ihr das lange, weiße Haar aus der Stirn, so wie er es damals, beim ersten Mal, getan hatte. Er senkte den Kopf und berührte ihre Lippen.
»Sie hat nicht geschlafen«, murmelte Dorothea unter seinem Kuß. »Das hat sie mir am nächsten Tag erzählt. Sie hat gemeint, sie sei es leid, daß du ständig bei uns herumhängst, deshalb wollte sie die Sache ein bißchen beschleunigen.«
Cyrus’ Augen wurden groß. »Ich dachte, sie konnte mich nicht leiden.«
Dorothea lachte. »Das auch.«
Sie sanken beide wieder auf den Rücken, schauten an die Decke und lauschten der Symphonie der Eulen draußen. Dorotheas Hand tastete vorsichtig nach Cyrus’, dann verwob sie ihre Finger mit den seinen. Sie dachte an Cassie auf ihrem Klappbett hinter dem Vorhang, der die Zeit bis zur Ankunft ihres Ehemanns zwischen den Fingern zerrann wie einem Häftling in der Todeszelle. Sie überlegte, wie anders das Leben des weißen Mädchens verlaufen wäre, wenn sie hundert Jahre früher geboren worden wäre, so wie Dorotheas Großmutter; wenn dieser Alex unter dem Schutz einer Büffelfelldecke um sie geworben hätte; wenn Mißhandlungen einfach unvorstellbar gewesen wären, weil sie dem Wesen des Stammes widersprachen.
Cyrus drückte ihre Hand, als habe er ihre Gedanken gelesen. »Damals war es einfacher«, meinte er bloß.
Dorothea rollte sich zu ihrem Mann herum und barg ihr Gesicht an seiner harten, knochigen Schulter, weil er nicht merken sollte, daß ihr Tränen in den Augen brannten. »Das war es«, flüsterte sie.
Dorothea verriet nicht, warum sie am folgenden Tag nicht in die Cafeteria ging. Cassie kannte die Antwort ohnehin: erkannte sie daran, wie Dorothea reglos in dem Schaukelstuhl neben ihr auf der Veranda wartete und ihr wortlos zeigte, daß sie zu ihr stand.
Sie wußte auch, daß es soweit war, als Dorothea irgendwann am Nachmittag leise flüsterte: »Kokepe sni yo«, - Fürchte dich nicht - und aufstand. Der Wind peitschte ihr den Rock um die Knöchel, als sie sich hinter Cassies Stuhl aufbaute, aber als der unbekannte schwarze Bronco vor dem Haus der Flying Horses anhielt, war sie längst im Haus.
Cassie war klar, daß niemand herauskommen und sie stören würde, während sie mit Alex redete. Weder Cyrus noch Dorothea, die der Meinung waren, daß das allein ihre Sache war, noch Will, der auf Connor aufpaßte. Und im Moment war das Cassie nur recht. Sie rieb die schwitzenden Handflächen an ihrem Hemd trocken, während sie aufstand, ans Verandageländer trat und sich darauf konzentrierte, ihren Zorn nicht verglühen zu lassen.
Alex stellte den Motor des Broncos ab und zog sich die Sonnenbrille von der Nase. Dort war Cassie. Sie war es wirklich. Nach monatelanger Agonie war er nur ein paar Schritte von seiner Frau entfernt.
Er stieg aus dem Wagen und schaute zu ihr auf. Sie kam ihm kleiner vor als in der Erinnerung. Seine Phantasie, die ihm als Regisseur so wertvolle Dienste geleistet hatte, schaltete in den Zeitraffer: er malte sich aus, wie der Wind ihr das Haar ins Gesicht wehte, wie sich ihre Lippen zu einem glücklichen Lächeln teilten, wie ihre Füße über die groben Planken flogen. Er stellte sich vor, wie sich ihre weiche Haut an seinen Körper schmiegte; er sah vor sich, wie er sie in diese Hütte trug, wem immer sie auch gehören mochte, sie auf weiße Laken bettete und sich tief in ihr vergrub.
»Alex«, sagte Cassie. Nachdem Joseph Stands In Sun sie vor Alex’ verfrühter Ankunft gewarnt hatte, hatte sie sich die ganze Nacht darauf vorbereitet, wie sie ihn zur Rede stellen würde. Du hast gelogen, würde sie ihm an den Kopf werfen. Du hast mir dein Wort gegeben. Aber es war so
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