Auf den zweiten Blick
Zornestränen brannten unter ihren Lidern. »Feigling«, flüsterte sie, nur um ihn zu treffen und genausosehr zu verletzen, wie er sie verletzt hatte.
So verharrten sie, bis die Zeit stehenblieb, und alles, was Cassie wahrnahm, waren Connors Fingernägel, die in ihre Haut schnitten, und sein Blick, der sich in ihr Gesicht brannte. Eine Träne trat ihr aus dem Auge, und Connor ließ eine ihrer Schultern los, um sie wegzuwischen.
Er hatte sie auch noch nie so berührt. So sanft, daß sie nicht wußte, ob sie sich die Berührung eingebildet hatte oder ob es die Nachtluft gewesen war. »Ich bin kein Feigling«, flüsterte er so nah an ihrem Gesicht, daß die Worte auf ihre Lippen fielen.
Keiner von beiden wußte, wie man küßt. Sie versuchten es erst auf der einen Seite, dann auf der anderen und trafen sich schließlich mit einem kleinen Seufzer. Hitze schoß durch Cassies Körper und brannte ihre Fingerspitzen in Connors Schultern. Sie war überzeugt, daß sie ihre Male hinterlassen würden.
Sie öffnete ihm ihren Mund, und als seine Zunge die ihre berührte, konnte sie nur noch denken: Er schmeckt genau wie ich.
Wenn Cassie Jahre später über ihren Beruf nachdachte, fragte sie sich oft, warum sie sich ausgerechnet für die Anthropologie entschieden hatte. Unbewußt hatte sie ihre Wahl schon mit vierzehn getroffen, in jener Nacht auf dem Tierfriedhof. Aber ihr war nie klar, was letztendlich den Ausschlag gegeben hatte: die Faszination, die die Knochen auf sie ausgeübt hatten, oder jener erste Kuß im Mondschein - oder die Tatsache, daß sie Connor damals das letzte Mal lebend gesehen hatte.
Eine Stunde standen sie so auf dem Friedhof und lernten einander ganz neu kennen. Im weißen Licht des Mondes sahen sie aus wie zwei in einem Kuß gefangene Gespenster, mit leuchtenden Knochen zu ihren Füßen. Dann gingen sie langsam zu Cassies Haus zurück, Hand in Hand, und diesmal führte Connor.
7
Um die Wiederauferstehung von Lancelot aus dem finsteren Mittelalter zu feiern, erklärte Alex, er würde Cassie zum Essen ausführen. »Le Dome«, verkündete er, während er aus dem Gedächtnis eine Nummer wählte. Er warf einen Blick auf Cassie. »Vielleicht möchtest du dich umziehen.«
Natürlich hatte sie das vorgehabt, schließlich hatte sie den ganzen Tag in Sand und Plastilin gewühlt; trotzdem traf es sie, daß Alex etwas an ihr auszusetzen fand.
»Louis? Alex Rivers. Ja, heute abend; neun Uhr. Nur meine Frau und ich. Ganz hinten bitte.« Er legte den Hörer sanft auf die Gabel zurück, nahm den Schädel vom Eßtisch und klappte den Unterkiefer auf und zu wie bei einer makabren Bauchrednerpuppe. »In Orrrdnung?« parodierte er Senor Wences.
Cassie mußte lächeln, sie konnte nicht anders. »In Orrrdnung.« Sie schlang sich die Arme um den Leib und fragte sich, was sie in ihrem Schrank wohl finden würde.
Doch zu ihrer Überraschung folgte Alex ihr ins Schlafzimmer und öffnete ihren Schrank. Er zog eine schlicht geschnittene, dreiteilige graue Seidenkombination heraus und legte es auf ihr Bett. »Bitte sehr«, sagte er, als sei das vollkommen normal.
Cassie lehnte in der Tür zum Bad und verschränkte die Arme. »Darf ich dir deinen Anzug auch aussuchen?« fragte sie trocken.
Verwirrt sah Alex auf, als würde er erst jetzt begreifen, wie sein Verhalten auf sie wirken mußte. »Du läßt mich immer für dich aussuchen«, entschuldigte er sich. »Du sagst, ich wisse besser, was man gerade so trägt.« Er nahm das Ensemble vom Bett und wollte es wieder in den Schrank hängen.
Cassie biß sich auf die Unterlippe. »Nein.« Sie trat ihm in den Weg. »Es gefällt mir. Ich meine, das wußte ich nicht. Es ist schon gut.«
Sie schrubbte sich unter der Dusche, bis ihre Haut schimmerte und ihre Haare leicht nach Lilien dufteten. Sie sang aus voller Brust »Hey Jude« und schrieb ihren Namen auf das beschlagene Glas. Als sie die Tür aufzog, stand Alex vor ihr. Inmitten der heißen Dampfschwaden und beschlagenen Spiegel sah er aus wie ein ätherisches Wesen. Er war nackt, und das machte sie nur noch verlegener. Sie legte sich die Hände auf die Brüste und drehte sich von ihm weg. »Ich wußte nicht, daß du auch im Bad bist«, sagte sie.
»Dich hätte man bis San Diego hören können«, sagte Alex. Er lächelte, nahm ihre Handgelenke und zog ihr die Hände vom Busen. »Ich hab das alles schon mal gesehen«, meinte er sanft. Er schlang ein Handtuch um ihre Hüften und zog sie an sich.
»Ich dachte, wir wollten
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