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Auf den zweiten Blick

Auf den zweiten Blick

Titel: Auf den zweiten Blick Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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zwei Wochen bis dahin, es war die perfekte Mutprobe, und Connor hatte noch nie eine Mutprobe ausgeschlagen. Sie hatte angestrengt überlegt, wie sie Connor von seinen Sorgen ablenken könnte - sein Vater hatte seinen Job verloren und verbrachte nun die Tage mit einer Flasche Scotch in der Garage; und es wurde immer offensichtlicher, daß Connors Eltern es sich nicht leisten konnten, ihn aufs College zu schicken, obwohl es Connors größter Traum war, Tierarzt zu werden. Cassie hatte das Aufblitzen in seinen Augen gesehen und gewußt, daß sie ihn am Haken hatte.
    Also schlichen sie sich an Halloween um Mitternacht aus dem Haus. Sie hatten das Terrain erforscht; die Älteren in der Schule hatten ihnen verraten, daß die Polizei jedes Jahr auf dem Friedhof von St. Joseph auf der Lauer lag, daß aber der Tierfriedhof beim Mayfair Place unbewacht war.
    Wie Katzen stahlen sie sich durch die Straßen, huschten von Schatten zu Schatten und hielten die Rucksäcke vom Körper weg, damit die Schaufeln und Hacken nicht klapperten. Sie kamen an den Überresten des vergangenen Abends vorbei: an mit Toilettenpapier umwickelten Bäumen, Briefkästen voller Ei. Cassie ging voran, und Connor folgte im Mondschein ihren Spuren, darauf bedacht, nur in ihre Fußstapfen zu treten.
    Der Tierfriedhof war ein kleiner, von silbrigen Kiefern umstandener, eingezäunter Bereich. Jeder im Ort hatte hier irgendein Tier liegen – eine Katze, ein Meerschweinchen, einen Goldfisch – aber die meisten Gräber waren nicht gekennzeichnet. Wie auf Absprache hielten sie auf einen der wenigen Grabsteine zu. Er markierte die letzte Ruhestätte einer widerwärtigen englischen Dogge namens Rufus, der einzigen Kreatur, die von der scharfen Zunge der alten Monahan verschont geblieben war. Rufus war schon sechs Jahre tot und Mrs. Monahan drei, deshalb glaubte Cassie, daß sie wohl niemandem zu nahe traten, wenn sie das Skelett des Hundes ausgruben.
    »Bist du soweit?« Connor schaute sich nervös um, aber er hielt schon die Hacke in der Hand. Cassie nickte. Sie zog ihr Werkzeug heraus und wartete darauf, daß Connor anfing.
    Der Hund war so tief vergraben, daß sich Cassie schon fragte, ob er wohl in einem Sarg lag. Schließlich waren die Monahans die reichste Familie am See gewesen und Rufus ihr einziges Kind. Sie scharrte die Erde mit bloßen Händen zusammen und schaufelte heraus, was Connor lockerte.
    Er stand mehr als einen Meter tief in der Grube, die Beine fest gegen die Wände gestemmt, aus Angst, er könne ganz unerwartet auf Rufus’ Überreste treten. Er beugte sich vor und stieß mit der Kante seines Spatens auf etwas Unnachgiebiges. »Ach du Scheiße«, sagte er.
    Cassie wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Hast du ihn?«
    Connor schluckte. Sein Gesicht war grau. Cassie reichte ihm die Hand und zog ihn herauf. Kaum war er oben, fiel er auf die Knie, krümmte sich zusammen und begann zu würgen, als müsse er sich gleich übergeben. Schließlich atmete er langsam durch.
    Cassie stand über ihm, die Hände in die Hüften gestemmt. »Mein Gott, Connor«, sagte sie. »Wie willst du jemals einem Tier die Eingeweide zusammennähen, wenn dir schon von einem toten Hund schlecht wird?« Kopfschüttelnd sprang sie in die Grube und zuckte zusammen, als ihr Schuh auf einen Knochen traf. Sie bückte sich und fing an, die dünnen weißen Gebeine Stück für Stück aus der Erde zu ziehen und sie Connor direkt vor die Füße zu werfen. Irgendwie war sie überrascht. Sie hatte sich das Skelett als großes, zusammenhängendes Gebilde vorgestellt, wie in den Zeichentrickfilmen, nicht als etwas, was die Zeit in lauter Stücke zerbrechen konnte.
    Schließlich zog sie den Hundeschädel aus dem Boden. Auf der Krone klebte immer noch Fell. »Wahnsinn«, hauchte sie und rollte ihn aus der Grube in Connors Richtung.
    Er saß mit dem Rücken zum Grab und hatte die Augen fest zusammengekniffen. »Können wir gehen?« fragte er. Seine Stimme klang kratzig und rauh.
    Cassie mußte einfach grinsen. »Herrgott, Connor«, sagte sie, »wenn ich dich nicht kennen würde, würde ich glauben, daß du dir vor Angst in die Hose machst.«
    Mit einer einzigen, geschmeidigen Bewegung stand Connor auf, drehte sich um und packte Cassie so fest an den Armen, daß es beinahe weh tat. Er schüttelte sie so heftig, daß ihr der Kopf in den Nacken kippte. »Ich hab’ keine Angst.«
    Cassies Augen wurden schmal. Connor war sonst nie so zu ihr. Er hatte ihr nie weh getan. Als einziger.

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