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Auf den zweiten Blick

Auf den zweiten Blick

Titel: Auf den zweiten Blick Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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eine Überraschung wird, mußte ich das alles in den sechs Minuten aushandeln, in denen du gestern nicht bei mir warst.«
    Cassie staunte ihn an. »Du hast das gestern gemacht?«
    Alex zuckte mit den Schultern. »Den Kauf hatte ich schon in Schottland geregelt. Aber gestern habe ich dafür gesorgt, daß der Schädel bis heute ankommt. Ich wußte nicht, wie lange es dauert, bis du wieder zu dir gefunden hast, und ich wollte, daß du dich hier zu Hause fühlst.«
    Cassie lächelte, und wie jedesmal fragte er sich, warum die Fotografen sich eigentlich auf ihn stürzten und nicht auf sie. Wenn sein Gesicht irgend etwas wiedergab, dann nur das Licht, das Cassie ausstrahlte. »Natürlich«, meinte sie ironisch, »wäre jede andere Frau mit Rosen zufrieden gewesen.«
    Alex beobachtete, wie Cassies Hände automatisch begannen, die Schädelsplitter der Größe nach zu ordnen. »Ich würde dich für nichts auf der Welt hergeben«, murmelte er.
    Cassie hatte gerade den Unterkiefer ausgepackt. Sie hielt inne und betrachtete gedankenverloren ihre Hände. Dann stand sie auf und beugte sich vor, um Alex einen Kuß zu geben. »Ich bin bestimmt der glücklichste Mensch in ganz Kalifornien«, sagte sie.
    Alex ließ sich in ihre Wärme fallen, stützte sich auf ihre Worte, auf das Prickeln, das ihre Haut auf seiner auslöste. Er wußte nie, was er sagen sollte; er war es gewohnt nachzusprechen, was andere geschrieben hatten. Er wünschte, er hätte vor langer Zeit gelernt, das Gefühl, daß er aufhören würde zu existieren, falls sie wegging, falls sie ihn jemals verlassen sollte, in Worte zu kleiden. Aber das konnte er ihr nicht sagen, deshalb tat er, was er immer tat: Er schlüpfte in die erstbeste Rolle, die ihm in den Sinn kam. Er war bereit, alles zu tun, um nicht mit den eigenen Grenzen konfrontiert zu werden.
    Er löste sich von ihr und wechselte die Tonart: eine leichte Komödie, in der er der Clown war. Alex warf einen Blick auf das Knochengewirr und zog eine Braue hoch. »Jedenfalls hattest du mehr Glück als er«, sagte er.
    Er ließ Cassie allein, während sie die Knochen in fünf Reihen anordnete, plus dem Unterkiefer, und ging nach unten, um den Rest von ihrem Geschenk zu holen: den Durofix, die Plastilinstangen und die Sandkiste, in die sie die Knochenteile immer steckte, während sie zusammengeklebt wurden. All das hatte er aus ihrem Labor im großen Haus geholt.
    Bis er wieder zurückkam, hatte Cassie bereits ein paar Knochenstücke ausgewählt und aneinandergelegt. Alex konnte erkennen, wie gut sie zusammenpassen würden. »Laut Aufkleber stammt er aus dem Frühmittelalter«, erklärte ihm Cassie. »Ich habe ihn Lancelot getauft.« Sie griff in die Kiste, die Alex in den Händen hielt, nahm den Durofix heraus und zog eine dünne Klebstoffspur über eine Knochenkante. Dann legte sie den Schädelsplitter seitlich in die Sandkiste, drückte das andere Knochenteil daran und baute einen Sandhügel, der beide Teile stützen würde, bis der Klebstoff trocken war. »Ich werde erst das Dach zusammensetzen und dann das Gesicht möglichst separat bauen. Sobald beides getrocknet ist, kann ich das caput mandibularis in die fossa einpassen. Auf diese Weise kann ich die Schlußbißstellung der Zähne überprüfen, bevor ich das Gesicht endgültig einfüge.«
    Alex schüttelte den Kopf. »Und manche Leute meinen, Shakespeare sei schwer zu verstehen.«
    Cassie lächelte, schaute aber nicht von der Arbeit auf. »Es braucht auch keiner zu verstehen, was ich sage. Er ist mein einziger Zuhörer« - sie fuhr mit dem Finger über Lancelots Unterkiefer - »und sein Gehör ist total im Eimer.«
    Sie war eine Stunde damit beschäftigt, die Stücke in einem dreidimensionalen Puzzle zusammenzusetzen. Alex saß ihr gegenüber und schaute gebannt zu.
    Cassie starrte ihn kritisch an. »Hast du mir noch nie bei der Arbeit zugesehen?« Als Alex den Kopf schüttelte, grinste sie. »Möchtest du mir helfen?«
    Seine Augen glühten kurz auf, aber dann hob er vorsichtig einen winzigen Splitter des uralten Gesichtes auf und strich mit dem Daumen über die gezackte Kante. »Ich habe doch keine Ahnung, was ich tun soll«, gestand er. »Ich wäre dir nur lästig.«
    »Es ist ganz leicht.« Cassies kleine Hände führten seine zu einem zweiten Stück, und sie fügte die Kanten so zusammen, daß sie perfekt paßten. »Du kannst die zwei für mich zusammenkleben.« Staunend schaute er auf ihre Finger, die sich um seine schlossen, auf ihre Hand, die seine

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