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Auf den zweiten Blick

Auf den zweiten Blick

Titel: Auf den zweiten Blick Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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hielt, schließlich auf die Knochensplitter. Niemand würde ihn mit Cassie in Verbindung bringen, solange sie getrennt waren - aber sobald sie zusammen waren, schienen auch sie wie füreinander geschaffen.
    Cassie hielt sein Träumen für Verwirrung. »Versuch es einfach«, ermunterte sie ihn. »Es ist wie Modellbauen. Du hast als Kind doch bestimmt Modelle gebaut.«
    Als Kind war er meistens allein gewesen und hatte sich die Zeit damit vertrieben, in den Tag hinein zu träumen oder immer neue Schleichwege durch die ländlichen Außenbezirke von New Orleans zu finden. Er hatte sich Verstecke gesucht und manchmal stundenlang auf einem Kirschbaum gehockt, um in den Büchern zu lesen, die er aus der Ortsbücherei geklaut hatte: Huckleberry Finn, Die rote Tapferkeitsmedaille, Joy of Sex.
    Alex’ Eltern haßten einander, wollten sich aber nicht dem Tratsch der Leute aussetzen, indem sie sich scheiden ließen. Seine Mutter lehnte Alex ab, weil er seinem Vater zu ähnlich sah; sein Vater lehnte ihn ab, weil Alex nicht der Sohn war, den Andrew Riveaux sich erträumt hatte - einer, der gern mit ihm durch die fruchtbaren Sumpfgebiete, die Bayous, watete und Moorhühner jagte; der Fallen auslegen und danach mit den Jungs Whiskey trinken konnte, ohne kotzen zu müssen.
    Zu seinem zwölften Geburtstag schenkte Andrew Riveaux seinem Sohn das komplizierte Holzmodell eines Conestoga-Wagens, eines jener Planwagen, die einst über den Oregon-Trail gefahren waren, wie Alex gerade in der Schule gelernt hatte. »Ich werde dir dabei helfen, Junge«, hatte sein Vater gesagt, und für Alex war dieses Versprechen noch schöner gewesen als das Geschenk selbst.
    Alex hatte die Schachtel geöffnet und sorgfältig die Holzteile und die Metallringe ausgebreitet, mit denen die Plane am Wagen befestigt werden sollte. »Nicht so schnell«, hatte sein Vater gesagt und seine Hände weggeschlagen. »Du mußt dir die Teile verdienen.«
    Und so wurde der Wagen jedesmal, wenn sich Alex in den Augen seines Vaters wie ein Mann benommen hatte, ein Stückchen weiter gebaut. Alex schoß seine erste Gans, trug sie eigenhändig an den zitternden Beinen heim und blieb zweimal zwischendurch stehen, um sein Frühstück zu erbrechen – und zur Belohnung half ihm sein Vater, den Wagenkasten zu bauen. Er stakte eine Piroge durch die schwarzen Adern der nächtlichen Bayous, lediglich seinem Geruchssinn vertrauend, bis er die Hütte der alten Hexe aufgespürt hatte, bei der sein Vater den Schwarzgebrannten kaufte - und verdiente sich dadurch den Kutschbock und die Deichsel für die Pferde. Er fiel vom Baum, brach sich das Bein, daß sich der Knochen durch die Haut bohrte, und weinte nicht eine Träne - und noch in derselben Nacht saß sein Vater an seinem Bett, um ihm zu helfen, während er mit zittrigen Fingern die Speichen in die vier Wagenräder steckte.
    Irgendwann - er war längst dreizehn - war das Modell fertig. Es war fein gearbeitet und perfekt zusammengesetzt, Zentimeter für Zentimeter ein Abbild der Geschichte. Alex leimte die Stoffplane an und nahm das Modell eine Stunde später mit in den Wald hinter seinem Haus, wo er es mit einem Ast zertrümmerte.
    »Alex. Alex.« Er zuckte zusammen, als er Cassies Stimme hörte. Sie sah ihn mit großen Augen an und wedelte mit einem Papiertaschentuch vor seinem Gesicht herum. »Hier«, sagte sie. »Du bist ganz blutig.«
    Er blickte in seinen Schoß und entdeckte zerbrochene Knochensplitter und den Schnitt in seinem Daumen. »O Gott«, flüsterte er. »Das tut mir leid.«
    Cassie zuckte mit den Achseln und wickelte das Tuch fest um seine Hand. »Sie sind zerbrechlich. Ich hätte dir das sagen sollen.« Sie lächelte unsicher. »Wahrscheinlich merkst du gar nicht, wie stark du bist.«
    Alex senkte den Blick. Cassie hatte das Gesicht zusammengesetzt; mit leeren Augen starrte es aus seinem Sandbett zu ihm auf. Schweigend beobachtete er, wie Cassie den Hinterkopf zusammenfügte. Der Schädel war fast vollständig erhalten. Säuberlich fügte sie vier Fragmente um den Fleck herum, an den das Knochenstück gehört hätte, das er zerbrochen hatte.
    Er stand auf, murmelte etwas, das er selbst nicht verstand. Er wußte nur, daß er aus dem Zimmer gehen mußte, bevor Cassie fertig war. Er würde den Schädel nie wieder als Summe all dieser Teile ansehen können; er würde immer nur das sehen, was fehlte, was er zerstört hatte.
    »Wir klauen Knochen aus einem Grab«, hatte Cassie verkündet. »An Halloween.« Es waren noch

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