Auf den zweiten Blick
Trauben«, flüsterte er, schon im Bühnentonfall. »Pflaumen und Naschereien, Ambrosia.« Er drehte Cassie den Rücken zu, die wie gelähmt neben ihm stand, und fixierte etwas auf der anderen Seite des Tisches, was sie nicht sehen konnte. »Bring ein Festmahl für einen Gott.«
Cassie lief aus dem Zimmer. Aus dem Schlafzimmer rief sie in der Universität an und meldete sich krank; sie glaubte wirklich, sich gleich übergeben zu müssen. Sie hörte, wie John Alex abholte, und als die Tür hinter beiden ins Schloß gefallen war, rollte sie sich auf der Matratze zusammen und versuchte, sich so klein zu machen wie nur menschenmöglich.
Alex kam erst spätabends nach Hause. Sie war immer noch im Schlafzimmer, saß am Fenster und schaute zu, wie die Sonne vom Horizont verschluckt wurde. Sie blieb mit dem Rücken zu Alex sitzen, als er die Tür aufmachte, und wartete steif auf eine Entschuldigung.
Er sagte nichts. Er kniete hinter ihr nieder und fuhr mit den Fingern sanft streichelnd über ihr Kinn und ihren Hals. Seine Lippen folgten der Fährte seiner Hände, und als er ihr Kinn zur Seite bog, um sie zu küssen, gab sie ihm nach.
Er liebte sie wie nie zuvor. Er nahm sie so grob, daß sie aufschrie, und war dann so sanft zu ihr, daß sie seine Hände auf ihren Leib pressen und um mehr flehen mußte. Es war kein Akt der Leidenschaft, sondern des Besitzes; jedesmal, wenn Cassie sich auch nur ein bißchen von Alex’ Fieber zu entfernen versuchte, preßte er sie fester an sich. Er hielt sich zurück, bis er spürte, wie sie sich um ihn zusammenzog, dann drückte er sie in die Kissen und flüsterte ihr ins Ohr. »Ja, du wußtest«, sagte er, »wie du so ganz mein Sieger warst.«
Als er schließlich eingeschlafen war und ruhig atmete, schlich sich Cassie aus dem Bett und hob das Drehbuch auf, das er beim Fenster hatte fallen lassen. Sie ging ins Bad und saß stundenlang auf dem Toilettendeckel, während sie das Stück überflog, das sie zum letzten Mal auf der High-School gelesen hatte. Sie weinte, als Antonius, der Kleopatra liebte, um des Friedens willen Octavia heiratete. Flüsternd las sie die Szene, in der Antonius begreift, daß Kleopatra ihn nicht betrogen hat, und einen ergebenen Soldaten bittet, ihn mit seinem eigenen Schwert niederzustrecken. Sie schloß die Augen und sah Antonius in Kleopatras Armen sterben; Kleopatra sich mit der Natter vergiften. Im dritten Akt entdeckte sie ihn: den Vers, den Alex ihr in der Stille danach ins Ohr geflüstert hatte. Aber sie hatte nicht mit Alex geschlafen. Antonius war es gewesen, der, besessen von ihr, sie berührt hatte, sie erfüllt hatte.
Links neben Cassie begann eine Frau laut zu husten, und Cassie schlug die Augen auf, nur um festzustellen, daß sie den Film fast völlig verpaßt hatte. Alex würde nicht mehr auf die Leinwand kommen. Die Darstellerin der Kleopatra, eine wunderschöne Frau, die danach nichts mehr von Belang gespielt hatte, sang Antonius’ Loblied. Flüsternd stimmte Cassie ein: »Den Ozean überschritt sein Bein; sein Arm, erhoben, ward Helmschmuck der Welt; sein Wort war Harmonie, wie aller Sphären Klang.« Für Alex war es die Rolle seines Lebens gewesen; damit hatte er Hollywood die Augen geöffnet und bewiesen, daß man es hier mit einem Schauspieler zu tun hatte, dem nichts unmöglich war, der selbst Midas Gold verkaufen konnte. Und war das ein Wunder? Ein Weltregierer. Von unbegrenztem Mut. Es gab so viele Parallelen zwischen Antonius und Alex, daß schwer festzustellen war, ob Alex überhaupt spielen mußte.
Sie wollte ihn sehen. Nicht so wie auf der Leinwand, wo er nur ein Gefäß für Gedanken und Taten einer fiktiven Gestalt war, sondern ihn selbst. Sie wollte mit dem Mann reden, der ihr erzählt hatte, daß er ihr mit Entführung gedroht hatte, falls sie ihn nicht heiraten würde, jenem Mann, dessen Grübchen ihre Kinder erben würden, der ihr alte Schädel und Plastilin kaufte. Sie wollte mit ihm auf einem schottischen Hochmoor stehen und sich in seinen Armen halten lassen, bis ihre Herzen im Einklang schlugen.
Ohne den Schluß des Films abzuwarten, zog sie Alex’ Sweatshirt fester um sich und stieg den Gang des Saales hinauf. Sie würde ihn nach seinem Termin im Krankenhaus treffen; dann würden sie gemeinsam nach Bel-Air fahren, und sie würde ihm von den zweiundvierzig Senioren erzählen, die heute morgen gekommen waren, um ihn zu sehen. Er würde den warmen Fleck küssen, wo ihr die Sonne auf den Kopf schien, und sie würde
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