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Auf den zweiten Blick

Auf den zweiten Blick

Titel: Auf den zweiten Blick Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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sich an ihn schmiegen, bis der ganze Rücksitz von dem Wunder erfüllt war, daß sie und Alex zusammen waren.
    Wie ein Brautschleier wehten Kleopatras Worte hinter ihr her, als sie in den feuchten Nachmittag trat. Gab es wohl jemals, gibt’s je solchen Mann, wie ich ihn sah im Traum?

9
     
    Michaela Snow, Alex Rivers’ PR-Agentin, erwartete ihn schon am Krankenhausparkplatz. »Alex, Alex, Alex«, sagte sie, und ihre schweren Arme schienen sich wie von selbst um seinen Hals zu schlingen. »Wenn ich dich nicht so lieben würde, würde ich dich umbringen.«
    Alex küßte sie auf die Wange und umarmte sie, so gut es ging - sie wog wesentlich mehr als er, deshalb schafften es seine Arme nicht ganz um ihre Taille. »Du liebst mich doch nur, weil ich dir viel Geld einbringe«, sagte er.
    »Auch wieder wahr«, antwortete sie. Sie schnippte mit den Fingern, und ein kleiner, dünner Mann kam hinten aus ihrem Wagen gestolpert. Zwischen den Fingern der einen Hand steckten drei Pinsel, in der anderen hielt er ein Schwämmchen mit Makeup. »Flauberi Halloran«, stellte Michaela ihn vor, »ein freier Kosmetiker.«
    »Flaubert«, wiederholte der Mann in einem Tonfall, der Alex an das Schleichen einer Katze erinnerte. »Wie der Schriftsteller.« Er steckte sich die Pinsel in den Mund wie eine Schneiderin ihre Stecknadeln und begann, den blauen Fleck unter Alex’ Augen wegzuschminken. »Häßlich, häßlich«, kaute er hinter den Pinselstielen hervor.
    Michaela warf einen Blick auf die Uhr. »Okay, Flo, das reicht.« Sie packte Alex am Handgelenk und schleifte ihn hinter sich her auf das Krankenhaus zu. »Es wollten sich drei größere Fernsehstationen blicken lassen, außerdem People, Vanity Fair und die Times. Die Geschichte geht wie folgt: Das hier ist ein Wohltätigkeitsbesuch, den du jedes Jahr absolvierst, und nur durch eine undichte Stelle - vielen Dank - hat die Presse Wind davon bekommen. Denk dir irgendeinen Cousin aus, der an Leukämie gestorben ist.«
    Alex grinste sie an. »Wie wär’s mit einem unehelichen Sohn?«
    Michaela schob ihn durch die Glastür des Krankenhauses. »Dann bring’ ich dich um«, versprach sie. Sie drückte Alex einen Stapel Werbefotos aus Tabu sowie einen Strauß blauer und goldener Luftballons in die Hand und scheuchte ihn dann in einen Aufzug. Michaela drückte den Knopf zum siebten Stock. »Vergiß nicht, ihnen vorzuspielen, daß du ganz entsetzt bist über die vielen Kameras. Du erholst dich aber gleich wieder und erzählst ihnen eine herzzerreißende Story, die dir eine weitere Oscarnominierung eintragen wird.« Sie zwinkerte ihm zu und winkte, daß die winzigen roten Nägel über ihrer Handfläche aufblitzten. »Ciao«, hauchte sie.
    Vorspielen? Sein Lächeln erlosch, noch während die Aufzugtür vor ihm zuging. Er spielte schon längst. Er hatte schon sein ganzes schauspielerisches Talent aufbieten müssen, um sich mit Michaela auf dem Parkplatz zu treffen und so zu tun, als sei das ein PR-Termin wie jeder andere. Jahrelang hatte Alex einen weiten Bogen um jedes Krankenhaus gemacht, jahrelang hatte er angestrengt versucht, jene Kinderstation in New Orleans zu vergessen. Während er durch den Flur ging, schlossen ihn der vertraute Ammoniakgestank und die spartanischen weißen Wände ein. Er spannte die Muskeln an, erwartete fast, den Stich einer Nadel, einen Infusionsschlauch zu spüren.
    Er war mit einem Loch im Herzen geboren worden, einer Fehlbildung, die ihn zu einer Kindheit auf der Ersatzbank verdammt hatte. Der Landarzt, der die ungewöhnlichen Herzgeräusche gehört hatte, hatte Alex’ Mutter in das Wohlfahrtskrankenhaus in der Stadt verwiesen, wo ein Spezialist überprüfen würde, wie ernst der Herzfehler war. Als sie den Termin immer wieder verbummelte, riet ihr der Arzt, ihr Sohn müsse sich vorsehen, sonst würde er es bereuen. Du darfst nicht rennen, hatte man ihm eingehämmert. Du darfst dich nicht anstrengen. Er wußte noch genau, wie er den anderen Kindern zugeschaut hatte, die auf dem Kindergartenspielplatz Fangen gespielt hatten. Er wußte noch genau, wie er die Augen geschlossen und sein Herz vor sich gesehen hatte - ein rotes, löchriges Valentinstagsherz.
    Als er fünf war, schaute er, weil er nicht draußen spielen durfte, nachmittags Seifenopern im Fernsehen an, zusammen mit seiner Mutter, die nicht zu merken und die es nicht zu kümmern schien, daß er da war. Einmal hatte im Fernsehen eine feenblonde Dame ihre Wange an die nackte Brust eines Mannes gepreßt und

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