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Auf den zweiten Blick

Auf den zweiten Blick

Titel: Auf den zweiten Blick Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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laut, daß der Recorder seine Worte aufzeichnen konnte. »Glaubst du, du könntest mir da helfen?«
    Sie wurde knallrot und hielt ihm die Wange hin, aber gerade als Alex sie küssen wollte, drehte sie ihm das Gesicht zu und drückte ihre Lippen mitten auf seinen Mund. »Wow!« hauchte sie und schlug sich die Hand auf den Mund. »Das muß ich Ma erzählen!«
    In dem Moment, wo die Blitzlichter aufleuchteten, wurde Alex schlagartig klar, daß er Sally nicht nur ihren ersten, sondern wahrscheinlich auch ihren letzten Kuß gegeben hatte. Er merkte, wie er zu schwitzen begann und wie der Raum um ihn herum verschwamm; er mußte ein paarmal tief durchatmen, um sich zu beruhigen. Körperlich war er geheilt; hatte er Glück gehabt. Aber die Kindheit steckte voller gefährlicher Minen, die plötzlich losgehen und einem die Unschuld rauben konnten, noch bevor man alt genug war, um sich zu wehren. Er wußte nicht, was schlimmer war - ein Kind, dessen Geist in einem sterbenden Körper gefangen war, oder ein Mann wie er, dessen offensichtlich gesunder Körper eine tote Seele barg.
    »Mein Gott, John«, sagte Alex und breitete die Arme über die Rückenlehne des Range Rovers. »Was soll die Geheimnistuerei? Oder ist sie mit einem anderen durchgebrannt?«
    John schaute ihn im Rückspiegel an. »Ich weiß nicht, Mr. Rivers. Ich hab’s der Missus doch versprochen.«
    Grinsend beugte sich Alex vor. »Zehn Dollar mehr die Woche, wenn Sie mir verraten, in welchem Stadtteil Sie sie abgesetzt haben. Zwanzig, wenn Sie mit der ganzen Wahrheit rausrücken.«
    John kaute auf der Oberlippe herum. »Und Sie sagen ihr nicht, daß ich was gesagt hab’?« Alex legte die Hand aufs Herz. »Ehrenwort«, sagte er. »Sie wollte sich ein paar Filme anschauen.«
    »Das ist alles?«
    John lächelte ihn an. »Sie wollte sich Ihre Filme anschauen. Auf einem Festival in Westwood.«
    Alex mußte lachen. Sie hätte sich all seine Filme - von den Arbeitskopien über die ungeschnittenen Fassungen bis zu den Verleihkopien - daheim ansehen können. Aber vielleicht wollte sie gerade deswegen, daß er nichts davon erfuhr. Vielleicht wollte sie vor allem sehen, wie andere Menschen auf Alex reagierten.
    »Haben Sie eine Zeitung da, John?« Alex nahm die Times entgegen, die John ihm durch den Spalt im Plexiglas reichte. Er blätterte den Kulturteil durch, bis er auf das Kinoprogramm stieß. Desperado, Antonius und Kleopatra und, natürlich, Die Geschichte seines Lebens. Er lächelte. Wenn Cassie ihn bei der Arbeit sehen wollte, konnte er ihr das viel einfacher machen.
    Er bat John, das Radio abzustellen, und schloß die Augen, blendete die Welt aus und sein Gespür ein. Bevor gedreht wurde, zog er sich immer in eine stille Ecke zurück, wo er in seine Rolle schlüpfen konnte. Es war eine Sache des Atmens; sich auf das Muster zu konzentrieren und es unmerklich zu ändern, bis es der Rolle entsprach.
    Wo Atem war, folgte das Leben. Antonius trank die Luft, als wolle er die ganze Welt mit einem Atemzug einsaugen. Als er die Augen wieder öffnete, sah er eine grüne und goldene Welt, die sich zu seinen Füßen ausbreitete. Er murmelte die Namen der Ausfahrten in präzisem britischen Akzent. Er würdigte John keines Blickes; schließlich war er sein Diener. Er ließ das Seitenfenster herunter und ließ sich den Wind ins Gesicht wehen, ließ sich das Haar nach hinten blasen und die Augen verbrennen. Er strich über das glatte Leder der Rückbank und sah im Geist die Kurven seiner Königin.
    Als Alex beim Apartment keine Anstalten machte auszusteigen, zuckte John nur mit den Achseln und lief zum Eingang hoch, um Mrs. Rivers abzuholen. Er war solche Szenen gewohnt. Er redete nie darüber, aber manchmal stieg Mr. Rivers in seinen Wagen ein, und ein vollkommen anderer Mensch kam wieder heraus.
    Cassie lachte, als sie in den Wagen kletterte. »Rück rüber«, sagte sie. »Du machst dich auf dem ganzen Sitz breit.« Alex saß in der Mitte und starrte sie an, machte aber keine Anstalten, zur Seite zu rutschen. Weil sie annahm, daß er irgendein Spiel mit ihr spielte, quetschte sie sich neben ihn, halb auf seinen Schenkel.
    Sie spürte seine Hand in ihrem Nacken, sanft und angespannt zugleich, als wolle er ihr auch mit einer Liebkosung zeigen, wie viel mächtiger er war als sie. Sie kniff die Augen zusammen und sah ihn an. »Was haben sie im Krankenhaus mit dir angestellt, um Gottes willen?«
    Seine Finger packten fester zu, bis es weh tat und sie unwillkürlich leise aufschrie. Er

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