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Auf den zweiten Blick

Auf den zweiten Blick

Titel: Auf den zweiten Blick Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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geflüstert Ich liebe dich von ganzem Herzen. Danach sah Alex nicht nur das Loch vor sich, wenn er sich sein Herz vorstellte. Er sah auch, welchen Schaden es anrichtete: all die Liebe, die er gesammelt hatte, für andere oder von anderen, sickerte daraus wie aus einem Sich.
    Kein Wunder, hatte Alex gedacht und sich selbst die Schuld an der Gleichgültigkeit seiner Eltern gegeben, so, wie sich kleine Kinder oft Dinge zurechtlegen und erklären. Damals hatte Alex zum ersten Mal beschlossen, jemand anders zu sein. Statt sich mit seinem Manko abzufinden, stellte er sich lieber vor, er sei ein verwegener Pirat, ein Bergsteiger, der Präsident. Er stellte sich vor, in einer ganz normalen Familie zu leben, in der ihn die Eltern beim Abendessen fragten: Was hast du heute erlebt?, statt sich in zornigem Cajun-Französisch anzuzischen. Und als man ihn mit acht für geheilt erklärte, erweckte er diese Phantasien zum Leben, um auf keinen Fall mehr der ängstliche Junge von früher zu sein.
    Er überzeugte sich selbst, daß er keinen Schmerz kannte, daß er unverwundbar wie ein Superheld war. Einmal hatte er seine Hand über eine brennende Kerze gehalten, bis die Haut Blasen warf und zu brennen begann, und sich eingeredet, daß jemand, der eine solche Mutprobe überstand, gewiß gegen das Desinteresse seiner Mutter, den Spott seines Vaters gefeit war. Er wurde ziemlich gut darin, das zu glauben, was er sich einredete. Dreißig Jahre später hatte Alex sogar so viel Übung darin, daß es ihm schwerfiel, sich ins Gedächtnis zu rufen, was bleiben würde, wenn er all seine Masken ablegte.
    Mit der Selbstbeherrschung, die ihn berühmt gemacht hatte, schüttelte Alex die Erinnerungen ab und wappnete sich für das, was gleich kommen würde. Er war in einem Krankenhaus, gut, aber das hatte nichts mit ihm zu tun; es bedeutete ihm nichts. Er würde seine Sache gut machen, er würde so tun, als sei er gern hier, und dann würde er so schnell wie möglich verschwinden.
    Es überraschte Alex nicht, daß er sich erst durch einen Haufen Ärzte und Krankenschwestern kämpfen mußte, ehe er zu den Kindern kam. Er lächelte höflich und suchte hinter den nickenden Köpfen verstohlen nach dem schnellsten Weg zu den Krankenstationen, damit es so aussah, als sei er schon öfter hiergewesen. Sie zupften an seinem Mantel, erklärten ihm, wie gut ihnen dieser oder jener Film gefallen hätte. Alle nannten ihn Alex, als würden sie ihn ewig kennen, nur weil sie zwei Stunden mit seinem Bild in einem dunklen Kino verbracht hatten.
    »Danke«, murmelte er. »Ja, danke.« Er war schon den Flur hinunter und kurz vor der Kinderkrebsstation, als die Kameras um die Ecke bogen. Er schaute gerade so lange auf, um leichtes Mißfallen und Überraschung anzudeuten, faßte sich aber gleich wieder und lächelte höflich. Ein paar Kinder würden ihn erwarten, entschuldigte er sich.
    Auf den Anblick der Kinder hatte Michaela ihn nicht vorbereitet. Ein verdammter Blick reichte, und schon war er wieder fünf Jahre alt und zitterte in seinem dünnen Schlafanzug, während er auf die Ärzte wartete, die ihm wieder einmal die Zukunft prophezeien würden. Hatte er auch so ausgesehen?
    Kinder in Pyjamas, manche auch in offenen Bademänteln, sprenkelten den Boden, alle mit viel zu großen Augen. Sie glichen einander wie Blaupausen: dünn, ausgemergelt, kahl, wie die Überlebenden eines Konzentrationslagers. Solange sie nichts sagten, konnte er nicht einmal Mädchen und Jungen unterscheiden. »Mr. Rivers«, lispelte ein kleines Mädchen. Sie war höchstens vier, aber er war nicht gut in solchen Schätzungen; er ging in die Hocke, damit sie auf seinen Rücken klettern konnte. Sie roch nach Medizin und Urin und Tod. »Hier«, sagte sie und steckte einen angelutschten Keks in seine Sakkotasche. »Den hab’ ich für dich aufgehoben.«
    Er hatte gedacht, sie seien viel zu jung für seine Filme, aber fast alle hatten Speed gesehen, den über den Testpiloten. Die Jungs wollten wissen, ob er wirklich die F-14 geflogen hatte, und einer fragte sogar, ob die Schauspielerin, die seine Geliebte gespielt hatte, so gut geschmeckt hatte, wie sie aussah.
    Den kleineren Kinder gab er Ballons, und jedem, der darum bat, eine Autogrammkarte. Als eine Dreizehnjährige namens Sally vor ihm stand, um sich eine zu holen, beugte er sich verschwörerisch zu ihr hinab. »Weißt du, wie man sich am besten merkt, wo man überall gewesen ist? Man küßt überall ein hübsches Mädchen«, sagte er gerade so

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