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Auf den zweiten Blick

Auf den zweiten Blick

Titel: Auf den zweiten Blick Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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preßte sich im selben Moment die Hand auf den Mund. Hoffentlich hatte Alex sie nicht gehört. Aber er hatte ihr schon den Rücken zugedreht und die Hände vor das Gesicht geschlagen. Er kniete neben ihr nieder und wiegte sie, wie immer, wenn sein Zorn erloschen war. Seine Hände streichelten sie mit jener Zärtlichkeit, die unzertrennlich wie ein siamesischer Zwilling mit seiner Wut verbunden war. »Verzeih mir«, flüsterte er. »Das habe ich nicht gewollt.«
    »Es ist nicht deine Schuld«, antwortete sie, denn sie kannte ihren Text, aber zum ersten Mal glaubte sie ihren Worten nicht. Tief in ihr sickerte Zorn aus einem Riß, der zu oft geflickt worden war, um noch zu halten. Du Schwein, dachte sie.
    Sie wußte, daß Alex sie brauchte, aber ihr war auch klar, daß sie nicht bleiben konnte. Sie durfte das Kind nicht gefährden, das sie und Alex geschaffen hatten. Für ihr Baby würde sie tun, was sie in den zwei Jahren für sich selbst nicht getan hatte.
    Als John sich über die Sprechanlage meldete, stand Alex auf und schaufelte seine Kleider, die Anzüge eingeschlossen, in die Koffer. Er schleppte das Gepäck vor die Tür und beugte sich dann zu ihr hinab, um sie zu küssen. »Ich liebe dich«, beteuerte er gepreßt. Er legte seine Hand auf ihre, die schützend ihren Bauch bedeckte.
    Sie wartete, bis der Wagen über den Kies knirschte, dann nahm sie ihre Jacke und verließ Alex’ Haus. Die Welt um sie herum verschwamm, und sie mußte alle Kraft aufbieten, um sich mit jedem Schritt davon zu überzeugen, daß sie nicht anders handeln konnte. Sie versuchte sich einzureden, daß es Alex vielleicht weniger weh tun würde, wenn sie ihn jetzt verließ, während er verreist war.
    Sie ging die Straße entlang, ohne zu wissen, wohin sie sollte. Sie konnte zu Ophelia gehen, aber dort würde Alex sie zuallererst suchen; und sonst hatte sie niemanden, an den sie sich wenden konnte. Cassies Wort stand gegen Alex’ vergoldetes Medienimage, und genau wie der griechischen Prophetin, nach der sie benannt war, würde ihr niemand glauben, wenn sie die Wahrheit sagte.
    Sie war so nah dran gewesen. Cassie hatte die Fäuste im Schoß geballt und weinte, weil sie erkannte, daß sie sich selbst betrogen hatte, indem sie das Gedächtnis verlor. Sonst wäre sie Alex wenigstens einen Schritt voraus geblieben.
    Er hatte sich fürsorglich und umsichtig gezeigt, wahrscheinlich weil sie ihre Anschuldigungen nicht sofort in die Pressemikrofone gekreischt hatte, sowie sie ihn auf dem Polizeirevier zu Gesicht bekommen hatte. Nicht daß sie so etwas jemals tun würde; das sollte Alex eigentlich wissen. Sie wollte ihm nicht weh tun - sie hatte ihm nie weh tun wollen -, sie wollte sich nur schützen. Sie hatte nie geglaubt, daß das eine das andere ausschloß.
    Alex dagegen dachte das, und so hatte er sie gefunden. Aber das Leben, das er ihr zu Füßen legte, war nicht, was es zu sein schien. Sie würde in Alex’ phantastischen Schlössern leben, in seine rauchgrauen Augen lächeln, wenn die Kameras blitzten, in leeren Nächten unter seiner Berührung erblühen, und trotzdem konnte es jederzeit wieder passieren.
    Bislang hatten nicht einmal Alex’ Versprechen das verhindern können. Sie hatte keine Wahl. Sie wünschte nur, er könnte das so klar sehen wie sie.
    Er konnte jeden Augenblick ins Schlafzimmer treten, um zu packen, aber sie würde nicht nach Schottland mitkommen. Cassie stand auf und schnappte sich eine alte Leinentasche, auf der das Logo eines Fernsehsenders aufgedruckt war. Sie warf so viele Sachen hinein wie möglich, griff sich dann eine Handvoll Unterwäsche und stopfte sie irgendwo dazwischen. Sie zog sich eine Baseballkappe mit dem Namen von Alex’ Produktionsgesellschaft in die Stirn und ging aus dem Schlafzimmer.
    Es war kein Gefängnis, jedenfalls nicht im üblichen Sinne, deshalb kam niemand auf den Gedanken, Cassie aufzuhalten und sie zu fragen, wohin sie wollte. Sie spazierte am Pool vorbei, am Labyrinth und an den Blumenbeeten. Sie ging durch ein kleines Nebentor in dem verschnörkelten Eisenzaun und quer durch den weitläufigen Nachbargarten, bis sie auf eine Straße stieß.
    Aus Angst, daß man ihr folgen könnte, ging sie immer schneller. Nach einer Weile fing sie an zu laufen. Ihre Schritte wurden schwerer, aber sie zwang sich weiterzurennen. Erst Stunden später, als sie glaubte, in Sicherheit zu sein, sank sie auf die Knie und ließ die Erinnerungen wieder wach werden.

1989-1993
     
    Sturmvögel, stolze Vögel der

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