Auf den zweiten Blick
Arktis, leben auf hohen Klippen. Von ihrem einsamen Thron aus können sie sich auf weniger überhebliche Vögel hinabstürzen, während sie Loblieder auf sich singen, die weit über das eisige Meer getragen werden.
Es war einmal ein Sturmvogel, der so anmaßend war, daß er in seinem Volk keine Gefährtin fand. Er beschloß, eine Menschenfrau zu heiraten, und wob einen Zauberspruch, damit er die Gestalt eines Mannes annahm. Aus den dicksten Seehundfellen nähte er sich einen wunderbaren Anorak, und er putzte sich, bis er aussah wie ein schöner junger Mann. Natürlich waren seine Augen immer noch die eines Sturmvogels, also fertigte er sich eine dunkle Brille, um seine Verkleidung vollständig zu machen, und dann schob er seinen Kajak ins Wasser, um sich eine Frau zu suchen.
Zur selben Zeit lebte an einem stillen Strand ein Witwer mit seiner Tochter Sedna, einem Mädchen, das so hübsch war, daß die Kunde von ihrer Schönheit bis weit über ihren Stamm hinaus gedrungen war. Viele Männer kamen und warben um sie, doch Sedna wollte keinen von ihnen. Niemand konnte ihren Stolz und ihr Herz erweichen.
Eines Tages kam ein schöner Mann in einem prächtigen Seehundanorak. Er zog seinen Kajak nicht an den Strand, sondern wartete draußen auf den Meereswogen und rief nach Sedna. Er begann, für sie zu singen. »Komm, Geliebte«, sang er, »ins Land der Vögel, wo du nie hungern sollst, wo du auf weichen Bärenfellen ruhen wirst, wo du dich mit Federn und Walbeinketten schmücken kannst, wo deine Lampen immer voller Tran und dein Topf voller Fleisch sein wird.«
Das Lied schmiegte sich um Sednas Seele und lockte sie immer näher an den Kajak heran. Und schließlich segelte sie mit dem Fremden über das Meer davon, fort von ihrer Heimat und ihrem Vater.
Anfangs war sie glücklich. Der Sturmvogel baute ihr ein Heim auf einer Felsklippe und fing jeden Tag Fische für sie, und Sedna war so bezaubert von ihrem Mann, daß sie gar nicht sah, wie sie lebte. Aber eines Tages rutschte dem Sturmvogel die Brille von der Nase, und Sedna blickte in seine Augen. Sie drehte sich um und erkannte, daß ihr Heim nicht aus dicken Pelzen, sondern aus fauligen Fischhäuten bestand. Sie schlief auf keinem Bärenfell, sondern auf steifem Walroßleder. Sie spürte die eisigen Nadeln der Ozeangischt und erkannte, daß sie einen Mann geheiratet hatte, der nicht das war, was sie geglaubt hatte.
Vor Trauer begann Sedna zu weinen, und obwohl der Sturmvogel sie liebte, konnte er ihre Tränen nicht stillen.
Ein Jahr verging, und Sednas Vater kam sie besuchen. Als er die Klippe erreicht hatte, auf der die beiden lebten, jagte der Sturmvogel gerade nach Fischen, und Sedna flehte ihren Vater an, sie wieder heimzubringen. Sie liefen zu seinem Kajak und stachen in See.
Sie waren noch nicht weit gekommen, als der Sturmvogel zu seinem Nest zurückkehrte. Er rief nach Sedna, immer und immer wieder, doch seine sehnsüchtigen Schreie wurden vom Heulen des Windes und des Meeres verschluckt. Andere Sturmvögel fanden ihn und erzählten ihm, wo Sedna war. Der Sturmvogel breitete die Arme aus, bis seine Schwingen die Sonne verdeckten, und flog dem Boot nach.
Als er die beiden so wild paddeln sah, wurde der Sturmvogel wütend. Er schlug mit seinen Flügeln im Wind, um heimtückische Strömungen hervorzurufen und eisige Wellen aufzutürmen. Seine Schreie weckten den wütenden Sturm, und das Meer wurde so aufgewühlt, daß das Boot auf den Wellen tanzte. Sednas Vater erkannte, wie mächtig der Vogel war, denn offenbar war selbst der Ozean erzürnt darüber, daß der Sturmvogel seine Frau verloren hatte. Der Vater wußte, daß er seine Tochter opfern mußte, wenn er sich selbst retten wollte.
Er warf Sedna in das eisige Wasser. Sie spuckte und schlug mit den Armen, und ihre Haut wurde blau vor Kälte. Sie krallte sich mit den Fingern am Boot fest, aber ihr Vater, dem der donnernde Flügelschlag des Sturmvogels Todesangst einjagte, schlug mit dem Kajakpaddel auf ihre Hände ein. Sednas Fingerspitzen brachen ab und fielen ins Meer. Sie verwandelten sich in Wale und schwammen davon. Als Sedna wieder auftauchte, hielt sie sich wiederum am Bootsrand fest, aber wieder schlug ihr Vater nach ihr. Die mittleren Fingergelenke brachen wie Eis und fielen ins Wasser. Sie wurden zu Seehunden. Ein letztes Mal bekam sie das Boot zu fassen, aber ihr Vater hieb wieder auf ihre Finger ein, bis auch die unteren Gelenke brachen, die sich in Walrosse verwandelten. Sedna sank auf den
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