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Auf den zweiten Blick

Auf den zweiten Blick

Titel: Auf den zweiten Blick Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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der anderen Seite. »Der von Mr. Rivers.«
    Sie verschwand. Cassie starrte die Fächer und Bügel voller Pullover und Blusen und Pelze an, die alle ihr gehörten. Der Schrank war größer als das Zimmer von Mrs. Alvarez im Apartment. Cassie hatte das Gefühl, noch nie so viele Kleider auf einem Fleck gesehen zu haben.
    Sie fing an, Sachen aus den Schubladen zu ziehen, die sie wohl mitnehmen sollte - bequeme Rollkragenpullover und Baumwolljacken, Unterwäsche und BHs und eine kleine Schminktasche. Sie wollte ein Paar Halbschuhe einpacken, die ganz unten in dem Schuhkartonstapel lagen, aber sie hatte keine Lust, erst alle Schachteln wegzuräumen. Also zog sie den Karton halb heraus und versuchte, die Schuhe unter dem Deckel durchzuquetschen, doch plötzlich brach alles über ihr zusammen, und der Inhalt ihres Schrankes stürzte auf sie herab.
    Halb begraben unter einem Haufen von Seidenwäsche und Stöckelschuhen und Wanderjacken wäre ihr fast das winzige Fach entgangen. Ein kleines Versteck, das nach dem gleichen Prinzip funktionierte wie der Schrank. Sie drückte gegen die Vorderfront, und der Riegel sprang auf. Es war winzig, höchstens so groß wie ein Brotkasten. Cassie fragte sich, ob sie hier ihren Schmuck versteckte.
    Drinnen lag ein Stapel Taschenbücher, billige Liebesschmöker mit halbnackten Frauen und starken Piraten auf dem Cover, Romane, mit denen sich eine Anthropologin nicht einmal tot erwischen lassen wollte. Cassie mußte laut lachen. War das ihr großes Geheimnis? Was versteckte Alex in seinem Fach? Den Hustler?
    Sie nahm sich eine Handvoll und ging die Titel durch. Im Rausch der Nacht. Brennende Glut. Herzen im Feuer. Vielleicht wollte Alex, daß sie die Bücher versteckte. Was würden die Leute sagen, wenn sie erführen, daß die Frau von Amerikas berühmtestem Filmstar in ihrer Freizeit solche Romane las?
    Hinter dem Bücherschrank klemmte eine Schachtel in der Ecke. Cassie erkannte sie auf den ersten Blick wieder. Der rosa Deckel war hochgeklappt, einer der zwei plastikverpackten Tests lag noch in seinem Behälter. First Response. Schon am ersten Tag nach Ausbleiben der Periode zu verwenden.
    Sie beugte sich aus dem Schrank heraus und schaute in das atemberaubende grüne Bad. Sie sah ganz deutlich vor sich, wie sie sich über den Waschtisch beugte und die erforderlichen drei Minuten abwartete. Sie wußte noch genau, wie sich der kleine rosa Kreis langsam aus dem Testschälchen herauskristallisiert hatte. ROSA - SCHWANGER. WEISS - NICHT SCHWANGER.
    Cassie sank auf den Haufen heruntergefallener Kleider. Kleider, die Alex ihr gekauft hatte, Kleider, die dem Prunk eines solchen Lebens entsprachen. Sie preßte sich die Handballen auf die Augen und versuchte das Bild des Friedhofs von St. Sebastian zu vergessen – und was sie dorthin getrieben hatte.
    Es war der Abend, an dem Alex zu den Außenaufnahmen nach Schottland fliegen sollte, und er hatte wieder eine seiner Launen. Sie hatte gelernt, ihn nach seinen Augen einzuschätzen - je dunkler sie wurden, desto weiter hielt sie sich von ihm fern. Sie hätte es wissen müssen.
    Beim Essen trommelte Alex unablässig mit dem Messer auf die Tischkante, bis Cassies Herz im Rhythmus des dumpfen Klopfens zu schlagen begann. »Wie war es heute?« fragte sie.
    Alex knallte das Messer an die Tellerkante. »Wir haben das Budget überzogen, der Regisseur ist ein Wahnsinniger, und wir produzieren erst seit einer Woche.« Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar. »Vielen Dank, daß du mich daran erinnert hast.«
    Cassie lehnte sich zurück und konzentrierte sich darauf, den Mund zu halten und so leise wie möglich zu essen. Eigentlich wollte sie Alex noch vor seiner Abreise erzählen, daß sie ein Baby erwartete, aber vielleicht war das der falsche Zeitpunkt. Sie mußte ihn im richtigen Moment erwischen. Sie mußte ihm beibringen, daß es nicht total ungelegen kommen würde; daß es ihr Leben verändern würde. Sie könnten noch einmal von vorn beginnen.
    Alex schob den Stuhl zurück. »Ich muß packen. In einer Stunde muß ich los.«
    Cassie blickte auf seinen Teller, auf das Essen, das er immer nur von einer Seite auf die andere geschoben hatte. »Ich mache dir ein Sandwich für unterwegs«, bot sie ihm an, aber Alex war schon aus dem Zimmer.
    In den zwei Jahren, seit es angefangen hatte, war Cassie ziemlich geschickt darin geworden, Alex aus dem Weg zu gehen. Schließlich war es ein großes Haus, und da die Angestellten abends heimgingen, würde es niemand

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