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Auf den zweiten Blick

Auf den zweiten Blick

Titel: Auf den zweiten Blick Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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Kopf, sah es schlecht für mich aus. »Sie werden mich übergehen«, flüsterte ich. Da - jetzt hatte ich es ausgesprochen. Die Worte, mit denen ich mir meinen Mißerfolg eingestand, fielen vor mir zu Boden, schwer und träge wie jede Niederlage.
    »Ich will sowieso nicht an der Uni arbeiten«, sagte ich leise und strich mit der Hand über die Wand.
    Das war gelogen. Die endlosen Intrigen waren mir zuwider, aber ich genoß es, über Geld und Mittel zu verfügen. Ich fand es phantastisch, wie sich alle bürokratischen Hemmnisse in Luft auflösten, wenn ich eine Ausgrabungsstelle im Ausland öffnen wollte. Und ich wußte, in einer Woche würde ich Custer und denjenigen, die befördert worden waren, vergeben. Ich würde der ganzen Kommission vergeben, die mich abgelehnt hatte. Dieses Jahr würde ich rausfinden müssen, was ich eigentlich falsch machte, und es dann besser machen.
    »Weißt du, was ich mir wünschte?« fragte ich. »Ich wünschte, die schönsten Stunden im Leben würden nicht alle in die Kindheit gestopft.«
    Bei den meisten Menschen war das auch nicht so. Wann war ich das letzte Mal barfuß über den Campus gelaufen? Oder hatte den Unterricht geschwänzt, weil ich verschlafen hatte? Wann hatte ich mich das letzte Mal besinnungslos betrunken oder war in einem fremden Bett aufgewacht oder hatte an der Supermarktkasse nicht genug Geld dabei?
    Noch nie. Ich schlug nie über die Stränge, und im Grunde glaubte ich auch nicht, daß ich deshalb irgendwas verpaßte. Ich war nicht gern spontan. Meine Zielstrebigkeit würde mir eine Beförderung einbringen.
    Irgendwann.
    Aber ich hatte so eine Ahnung, daß Connor entsetzt wäre, wenn er wieder zum Leben erwachen würde. Er hätte bestimmt gewollt, daß ich all die Sachen mache, über die wir immer geredet hatten: ein paar Monate auf Tahiti leben, Bonsais züchten oder freiklettern.
    Ich versuchte, Connor aus meinem Kopf zu verbannen und mich auf das Treffen mit Archibald Custer einzustimmen. Er stand wie ein Monolith in der Tür zu seinem Büro, als glaube er, allein durch die Kraft seines Amtes jeden, den er sehen wollte, heraufbeschwören zu können. Er war streitsüchtig, borniert und ein Sexist. Ich mochte ihn nicht besonders, aber ich spielte nach seinen Regeln.
    »Ach, Miss Barrett«, sagte er. Er hielt zum Sprechen einen Verstärker an ein Kästchen in seinem Kehlkopf, weil man ihm vor ein paar Jahren bei einer Kehlkopfkrebsoperation die Stimmbänder herausgenommen hatte. Die Erstsemester fanden ihn unheimlich, und ich mußte ihnen recht geben. Wenn man von seiner Größe einmal absah, erinnerte er mich immer ein bißchen an die Zeichnung eines Homo habilis, und insgeheim beglückwünschte ich ihn dazu, einen so passenden Beruf gewählt zu haben.
    Er mochte mich genausowenig, nicht nur, weil ich eine Frau war und jung, sondern auch, weil ich Bioanthropologin war. Er war Kulturanthropologe – er hatte sich vor Jahren einen Namen gemacht, als er mit den Yanonami zusammengehockt war. Zwischen den beiden anthropologischen Lagern hatte immer eine Art freundschaftlicher Konkurrenz geherrscht, aber ich konnte ihm einfach nicht verzeihen, was er mit mir gemacht hatte, nachdem ich meine Dissertation vorgestellt hatte. Ich hatte eine Abhandlung darüber geschrieben, ob Gewalt vererbt oder erlernt wird, eine uralte Streitfrage zwischen den Bio- und den Kulturanthropologen. Allgemein neigte man eher zum kulturellen Ansatz, demzufolge Aggression zwar angeboren ist, geplante Aggression - wie zum Beispiel ein Krieg - aber durch den Druck der Gesellschaft hervorgerufen wird, nicht durch unsere Evolutionsgeschichte. Ich argumentierte, daß das wahr sein mochte, daß aber gar keine Gesellschaft entstanden wäre, wenn die territorialen Anlagen in den menschlichen Genen es nicht erforderlich gemacht hätten, Regeln zu erlassen.
    Alles in allem war es eine recht solide Gegenthese zum kulturanthropologischen Ansatz, und das brachte Custer zum Kochen. In meinem ersten Jahr als Lehrbeauftragte hatte er mir lauter Kurse zugeteilt, die in den Bereich Kulturanthropologie fielen, und als ich mich beschwerte und auf Exkursion gehen wollte, hatte er bloß die Brauen hochgezogen und gemeint, es täte mir gar nicht schlecht, meine Ausbildung ein bißchen abzurunden.
    Jetzt winkte er mich in sein Büro und wies mir den Stuhl gegenüber seinem riesigen Schreibtisch zu. Er grinste, dieses Schwein, als er ansetzte: »Leider muß ich Ihnen mitteilen -«
    Ich sprang aus dem Stuhl, weil ich

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