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Auf den zweiten Blick

Auf den zweiten Blick

Titel: Auf den zweiten Blick Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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eigenartig finden, wenn sie sich um drei Uhr morgens in ihrem Labor einschloß oder in der Bibliothek saß und las, bis die Sonne aufging. Aber an jenem Abend ließ sie ihr Instinkt im Stich; sie hatte tagsüber zu lange von einem kleinen Jungen mit Alex’ silbernen Augen geträumt. Sie ging ins Schlafzimmer und setzte sich mitten aufs Bett, wo sie Alex beim Packen zuschauen konnte. Ihn anzusehen war fast, als könne sie einen Blick auf ihr Baby erhaschen. »Soll ich deinen Waschbeutel zusammenpacken?« Alex schüttelte den Kopf. Sie hob einen Pullover auf, den er aufs Bett geschleudert hatte. »Ich lege ihn für dich zusammen«, bot sie ihm an und hatte schon die Ärmel übereinandergelegt, als Alex sie am Handgelenk packte.
    »Ich habe gesagt, ich mache das selbst.«
    Irgend etwas nagte an Alex, irgend etwas, das lange, bevor sie ihn kennengelernt hatte, ein Teil von ihm geworden war. Er war das, was ihn zu einem exzellenten Schauspieler machte, obwohl das außer ihr niemand wußte. Sie sahen den Schmerz, aber erst, nachdem Alex ihn in eine Rolle gepackt hatte. Nur Cassie hatte ihn gesehen, wenn seine Augen erloschen; nur Cassie hatte ihre Hände auf seine Brust gelegt und gespürt, wie sich die Haut über dem zornigen Herz spannte.
    Sie liebte ihn mehr als alles auf der Welt. Sogar mehr als sich selbst - hatte sie das nicht bewiesen? Sie wußte, daß sie ihn diesmal vielleicht nicht heilen konnte, dafür aber bestimmt beim nächsten Mal. Deshalb war Alex zu ihr gekommen. Sie war der einzige Mensch, der ihm helfen konnte.
    Aber es war eine zweischneidige Sache. Sie war die einzige, die Alex nah genug war, um ihm helfen zu können, aber dadurch war sie auch in seiner Reichweite. Es war nicht seine Schuld, wenn sie ihm in die Quere kam. Wenn es geschah, konnte sie nur sich selbst die Schuld dafür geben und ihm verzeihen.
    Alex sank neben ihr aufs Bett. »Ich will nicht nach Schottland, Scheiße«, erklärte er rauh. »Ich will freihaben. Ich will, daß diese verdammte Oscarsendung endlich vorbei ist; ich will einfach von der Bildfläche verschwinden.«
    »Dann tua doch«, drängte Cassie, während sie seine Schultermuskeln massierte. »Leg Macbeth auf Eis und komm mit mir nach Kenia.«
    Alex schnaubte. »Und was soll ich dort tun, während du in deinem Sandkasten spielst?«
    Cassie zuckte zusammen. »Drehbücher lesen«, schlug sie vor. »Dich sonnen.«
    Alex begann, seine Sachen in die Koffer zu schmeißen, die aufgeklappt auf dem Boden lagen. »Ich habe heute was über mein Oscar-Interview mit Barbara Walters gehört.« Er seufzte. »Sie bringt mich zusammen mit irgendeinem Komiker und Noah Fallen.« Cassie sah ihn verständnislos an. »Noah Fallen, um Himmels willen. Er ist auch als bester Schauspieler nominiert.« Alex setzte sich auf den Boden und zog die Knie an die Brust. »Sie bringt mein Interview als zweites. Scheiße. Und Fallon am Schluß.«
    Cassie lächelte ihn an. »Hauptsache, du bist überhaupt in der Sendung«, sagte sie.
    Alex drehte ihr den Rücken zu. »In den letzten drei Jahren hat jedesmal der Oscaranwärter gewonnen, den Barbara Walters als letzten gebracht hat. Es ist wie ein Scheißbarometer für die Academy-Entscheidung.«
    Weil sie nicht wußte, was sie darauf sagen sollte, rutschte Cassie vom Bett und schlang die Arme um ihn. »Ich gehe leer aus.« Weich fielen Alex’ Worte auf ihre Schulter.
    »Du wirst gewinnen«, flüsterte sie eindringlich. »Du wirst bestimmt gewinnen.«
    Wie meistens kippte Alex’ Stimmung zwischen zwei Herzschlägen um. Er sprang auf, packte Cassie an den Handgelenken und rüttelte sie so grob, daß ihr das Haar ins Gesicht fiel und ihr Genick knackte. »Woher willst du das wissen?« fuhr er sie an. Sein heißer Atem wehte ihr ins Gesicht. »Woher willst du das wissen?«
    Die Worte blieben Cassie im Hals stecken, jene Worte, mit denen sie sich jedesmal verteidigen wollte und die ihr doch nie über die zusammengepreßten Lippen kamen. Alex schüttelte sie noch einmal und stieß sie dann zu Boden, so daß sie ihm zu Füßen lag.
    Sie fiel über die Koffer und schlug sich an der offenen Schranktür eine Wunde am Kopf, die aber längst nicht so schmerzte wie die Scham, die sie empfand. Sie sah gerade noch Alex’ Fuß auf sich zukommen, und statt sich wie sonst zu einem Ball zusammenzurollen, drehte sie sich zur Seite, so daß er sie am Kücken erwischte. Der Schmerz schoß ihr bis in den Nacken, aber ihr Bauch blieb verschont.
    »Mein Baby«, hauchte sie und

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