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Auf den zweiten Blick

Auf den zweiten Blick

Titel: Auf den zweiten Blick Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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Meeresboden.
    Sedna wurde ein mächtiger Geist und beherrscht seither die Meerestiere, die aus ihren Fingern entstanden waren. Manchmal rührt sie Stürme auf und schleudert die Kajaks gegen die Felsen. Manchmal löst sie Hungersnöte aus, indem sie die Seehunde von den Jägern weglockt. Nie jedoch wagt sie sich aus dem Wasser, aus Angst, sie könne noch einmal dem Sturmvogel begegnen.
     
    Legende der Eskimo

10
     
    Ich werde dir alles erzählen.
    Aber die Geschichte beginnt, lang bevor ich dir begegnet bin, lang bevor irgend jemand Alex Rivers kannte. Sie beginnt an dem Tag, an dem Connor Murtaugh im Haus nebenan einzog – an jenem Tag, an dem ich abends zum Essen heimkam und meiner Mutter erklärte, daß ich ein Junge werden wollte, wenn ich erwachsen war.
    Ich war fünf Jahre alt, ein artiges, niedliches kleines Mädchen, das zur Südstaatenlady erzogen werden sollte. Daß wir in Maine lebten, hinderte meine Mutter nicht daran, ihr Kind zu einem perfekten Georgia-Gewächs heranzüchten zu wollen. Ich konnte ein bißchen lesen und, weil es nötig war, auch einfache Gerichte zubereiten wie Suppe, Käsesandwiches und natürlich starken schwarzen Kaffee. Ich wußte, wie man das Haar über die Schulter wirft und die Augen niederschlägt, um zu bekommen, was man will. Ich lächelte mit geschlossenen Lippen. Die meisten Erwachsenen fanden mich reizend, aber ich hatte keine gleichaltrigen Freunde. Weißt du, es war einfach undenkbar, sie mit nach Hause zu bringen, und deshalb hielten mich die meisten Kinder im Kindergarten für komisch oder eingebildet. Und dann zogen Connors Eltern aus einer Wohnung am anderen Seeufer in das Haus neben unserem.
    Den ganzen ersten Tag half ich ihm, Schachteln und Lampen zu tragen, und beantwortete dabei seine Fragen nach meinem Geburtstag, dem ekligsten Essen und der besten Stelle für fette Köderwürmer. Connor war eine Offenbarung für mich. Zum ersten Mal sah ich, daß das Leben nicht nur darin bestand, die Knie zusammenzupressen, wenn man auf einem Stuhl saß, und sich jeden Abend das Haar mit hundert Bürstenstrichen auszukämmen. Also tauschte ich meine Lackschuhe gegen ein Paar ausgetretener Turnschuhe von Connor ein, die wunderbar paßten, wenn ich vorne ein Paar Socken hineinstopfte. Ich wurde in die Kunst eingeweiht, Schnecken mit Salz zu bestreuen oder bäuchlings durch den Schlamm zu schliddern.
    Es gibt viele Gründe, warum ich meine Entscheidung, Anthropologin zu werden, auf Connor zurückführe; vor allem, weil er mir als erster gezeigt hat, wie schön sich die Erde anfühlt, wenn man sie zwischen den Fingern durchquetscht. Heute sind meine Hände fast immer dreckig, und obwohl Connor seit siebzehn Jahren tot ist, ist er immer noch bei mir.
    Ich glaube nicht an Ufos, an Reinkarnation oder an Geister, aber ich glaube an Connor. Ich kann nur sagen, hin und wieder spüre ich ihn. Immer wenn etwas schiefläuft, taucht er auf. Wahrscheinlich ist es meine Schuld, daß er nie richtig in den Himmel gekommen ist oder dahin, wo die Seelen der Toten sonst verschwinden. Schließlich hat er sich schon als Kind um mich gekümmert und fühlt sich offensichtlich immer noch verpflichtet, auf mich aufzupassen.
    Deshalb, weißt du, rechnete ich mit ihm an jenem heißen Montag im August, als ich im Gang der anthropologischen Fakultät auf und ab marschierte und auf die Entscheidung über meine Festanstellung wartete. Ich arbeitete schon zwei Jahre als Wissenschaftliche Assistentin an der Universität, nachdem ich dort mein Examen, meinen Magister und meinen Doktor gemacht hatte. Ich sollte fest angestellt werden. Leute, die nach mir gekommen waren, waren schon zum außerordentlichen Professor ernannt worden. Schließlich hatte ich Archibald Custer, dem Dekan der Fakultät, mit der glatten Lüge gedroht, ich hätte ein Angebot von einem College im Osten.
    Ich rechnete nicht wirklich damit, fest angestellt zu werden, weil ich mit siebenundzwanzig immer noch jünger war als selbst die außerordentlichen Professoren und Seminarleiter. Aber es war schließlich nicht meine Schuld, daß sie länger gebraucht hatten, um so weit zu kommen wie ich. Ich war stolz darauf, daß ich schon vor dreizehn Jahren entschieden hatte, was ich mit meinem Leben anfangen wollte, und seither an meinem Plan festgehalten hatte.
    Ich lehnte an dem Wasserspender vor dem Fakultätssekretariat, als ich den leichten Druck im Rücken spürte, der mir verriet, daß Connor zuschaute. Wenn er hier war, ging mir durch den

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