Auf den zweiten Blick
die Probleme wenigstens offensichtlich. Connors Familie dagegen war unter einer Schicht aus Zuckerguß verfault, von innen heraus, so daß niemand es sehen konnte.
Beim Trauergottesdienst schneite es. Da Connor kein Testament hinterließ, wurde mit seinem Leichnam so verfahren wie mit denen seiner Eltern: Er wurde verbrannt. Die Asche wurde über dem Moosehead Lake verstreut. Cassie schaute zu, wie erst die Urne mit Mrs. Murtaugh und dann die von ihrem Mann geöffnet wurde. Als Connors Asche verwehte, begann Cassie zu schreien. Niemand konnte sie zum Schweigen bringen; nicht einmal als ihr Vater seinen Handschuh auf ihren Mund preßte, wurde der Schrei leiser. Es war nicht recht, daß Connor und sein Vater bis in alle Ewigkeit vermengt wurden. Sie mußten noch einmal von vorn beginnen. Sie mußten ihr Connor zurückgeben.
Schnee fror die Lider über ihren aufgerissenen Augen fest, als Connors Überreste dem Wind übergeben wurden. Ein grauer Hauch zog substanzlos und flüchtig wie Rauch über den Himmel und verschwand. Als habe Connor nur in Cassies Einbildung existiert. Als habe er überhaupt nie existiert.
Sie schlich von den kondolierenden Gästen weg und begann, immer noch in ihrem Sonntagskleid und den Schneestiefeln, um den Moosehead Lake herumzulaufen. Der See war riesig, und sie wußte, daß sie nicht weit kommen würde, aber als sie keuchend in den Schnee sank, war sie über eine Meile von der Trauerfeier entfernt. Es war ihr egal, daß der Schnee den dünnen Stoff ihres Rockes durchtränkte, daß seine Kälte sie lähmte. Sie bohrte die Finger in den hartgefrorenen Boden, bis ihr die Nägel brachen und bluteten.
Ihr war klar, daß sie, auch wenn sie jahrelang versucht hatte, das Leid ihrer Mutter zu lindern, Connor niemals von seinem Schmerz befreien konnte. Also würde sie das Zweitbeste tun: Sie würde für ihn leiden. Sie trug den Rosenquarzbrocken heim, hockte sich in die Garage neben die Werkzeugkiste ihres Vaters und meißelte mit Hammer und einem Pfriem den Grabstein, den man Connor verwehrt hatte. Sie arbeitete, bis sie ihre Hände nicht mehr bewegen konnte. Dann schlang sie die Arme um die Knie und wiegte sich vor und zurück. Sie konnte nicht begreifen, warum sie, nachdem man ihnen beiden das Herz aus dem Leib gerissen hatte, nicht ebenfalls starb.
Am Freitag abend saß Will Flying Horse gerade auf seiner neuen grünen Couch, schaute ein Quiz an und aß ein halbgares TV-Dinner, als der Strom ausfiel. »Scheiße«, sagte er, während die blinkende Uhr an seinem Videorecorder erlosch. Er stellte den Teller neben sich auf die Couch und versuchte sich ins Gedächtnis zu rufen, wo der Sicherungskasten war.
Es hätte schlimmer kommen können; es war früh am Abend und draußen noch so hell, daß er den Weg in den Keller erkennen konnte. Komisch war, daß gar keine Sicherung durchgebrannt war. Er ging wieder nach oben und trat vor die Tür. In den Fenstern nebenan und gegenüber sah er eine Küchenlampe brennen; einen Hund stumm über einen Bildschirm rennen. Es war nur bei ihm.
Er rief bei der Elektrizitätsgesellschaft an, konnte aber lediglich seine Adresse und sein Problem auf einen Anrufbeantworter sprechen. Gott allein wußte, wie lange es dauern würde, bis jemand das Ding abhörte. Also holte er ein paar Kerzen aus seinem Küchenschrank, häßliche, eiförmige rote Dinger, die ihm eine ExFreundin vor Jahren zum Geburtstag geschenkt hatte. Er stellte vier Stück ins Wohnzimmer und zündete sie mit Streichhölzern an, die er in seiner Tasche fand.
Als die Sonne unterging, legte sich ein Schatten über ihn. Die Fransen an dem Medizinbündel über ihm zitterten rastlos in der Stille. Will lauschte dem Rhythmus seines Herzens. Er konnte nichts weiter tun als warten.
Elizabeth, das Dienstmädchen, kam mit einem Koffer ins Schlafzimmer, der größer war als sie selbst. »Werden Sie auch einen Kleidersack brauchen?«
Cassie hatte keine Ahnung. »Ich schätze schon«, sagte sie, und sofort drehte sich das Mädchen um und wollte gehen. »Moment«, rief sie ihr nach. Sie zog die Stirn in Falten. »Ich kann den Schrank nicht finden.«
Elizabeth lächelte. Sie marschierte durch die Suite und das Schlafzimmer in den kurzen Flur, der zu dem mit grünem Marmor gefliesten Bad führte. Als sie sich mit der Schulter an die Wand lehnte, sprang zu Cassies Verblüffung die Tapete auf und gab den Blick auf einen verborgenen begehbaren Schrank frei. »Ihrer«, sagte Elizabeth, dann machte sie das gleiche auf
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