Auf der anderen Seite ist das Gras viel gruener - Roman
eigentlich unanständig perfektes Leben zu jammern), und zweitens war sie von Geburt an weise und würde mich bestimmt beruhigen können. Mit falschen Entscheidungen und jenen schlechten Erfahrungen, aus denen man angeblich fürs Leben lernt, hatte Eva sich nie abgegeben, klug, wie sie war, hatte sie immer alles auf Anhieb richtig gemacht. In siebenunddreißig Lebensjahren hatte sie es auf bewundernswerte Weise geschafft, persönlichen Krisen und Katastrophen aus dem Weg zu gehen. In ihrem Leben reihte sich ein nahezu perfekter Tag an den nächsten. Wenn man mal von ihrer Hochzeitsfeier absah, oder DER HOCHZEIT, wie wir sie nur noch nannten. Aber dass ausgerechnet an diesem Tag alles schiefging, war ja nicht Evas Fehler gewesen, sondern – um nur ein paar Schuldige zu nennen – dem Wetter zuzuschreiben, den Schwiegereltern, der Catering-Firma und DER TANTE. Allzu schreckliche Dinge pflegten wir in unserer Familie in VERSALIEN zu setzen und mit gedehnter, dumpfer Stimme auszusprechen, das war eine Art Familientradition. So wussten zum Beispiel alle, dass mit DAS ZIMMER die Rumpelkammer im Haus meiner Eltern gemeint war und mit DER HUND der Terrier der Nachbarn. DIE TANTE war so schrecklich, dass alle ihren Vornamen vergessen hatten, und DER BRIEFKASTEN hatte einen meiner waghalsigen Versuche, als Siebenjährige freihändig Fahrrad zu fahren, gestoppt, das Ergebnis war eine Platzwunde an der Stirn, die mit vier Stichen genäht werden musste.
Erfahrung ist der Name, den jeder seinen Fehlern gibt.
Oscar Wilde
»Von halb zwei bis halb sechs war er hellwach und wollte ›Känguru hüpf‹ spielen.« Eva gähnte ins Telefon. Seit der Geburt ihres Sohnes Henri vor zwei Jahren hatte ich sie kaum mehr ohne Gähnen sprechen hören. Der fehlende Schlaf war das einzige Manko in ihrem ansonsten perfekten Leben.
»Was ist denn das für ein Spiel?«
»Das hat Henri selbst erfunden. Man muss dabei hüpfen, ein Stoffkänguru in der Luft herumschleudern und ›Oink oink‹ machen.«
»Oink oink?« Ich war mittlerweile im Supermarkt angekommen und steuerte mit dem Einkaufswagen auf das Gemüse zu. Obwohl ich wusste, dass Gabi im Büro immer noch auf die dämliche Teilnehmerfragebogenauswertung wartete und mich vermutlich morgen früh in Grund und Boden schnalzen würde, hatte ich beschlossen, für heute Feierabend zu machen. Felix und ich würden endlich mal einen ganzen Abend miteinander verbringen und nicht nur den kläglichen Rest davon.
»Ja. So machen Kängurus. Jedenfalls die bei uns im Kinderzimmer«, erklärte Eva. »Wenn wir das Licht ausgemacht haben, hat er so laut gekreischt, dass wir Angst hatten, Frau Luchsenbichler ruft das Jugendamt, also haben wir … na ja, wir bekommen wohl keine Medaille für Konsequenz verliehen.«
»Oink«, sagte ich mitleidig, während ich einen Bund Frühlingszwiebeln auswählte. Ab heute war nämlich Schluss mit mangelnder Esskultur und dem Take-away-Lotterleben, das Felix und ich führten. Essen vom Inder, Italiener, Türken und Thailänder würde es nur noch in Ausnahmefällen geben, hatte ich heute Mittag beschlossen. Genauer gesagt, nach der Lektüre eines Artikels in der »Cosmopolitan«, in dem stand, dass liebevoll zubereitete, gemeinsame Mahlzeiten die Romantik in den Alltag einer Paarbeziehung zurückbringen konnten.
»Hat er wenigstens den ganzen Tag gepennt?«
»Wo denkst du hin? Nur mal zehn Minuten im Auto …« Im Hintergrund schepperte und klapperte es, vermutlich durfte Henri wieder mal die Schubladen ausräumen. »Robert meint, er ist gar nicht unser Kind, sondern ein außerirdischer Roboter, den man uns untergeschmuggelt hat. Ich würde ihn dir geben, aber er spielt gerade so nett. Und er sieht so knuffig aus, wenn er ›Oink oink‹ sagt. Ich maile dir morgen neue Fotos.«
»Flirtest du manchmal mit anderen Männern, Eva?«, fragte ich. »Ich meine, nur so zum Spaß?«
»Das ist aber mal ein rasanter Themenwechsel. Alles in Ordnung bei dir und Dr. McDreamy?«
»Ja. Ich bin nur ein wenig … philosophisch gestimmt. Also, tust du’s?«
»Ob ich mit anderen Männern flirte?« Eva schnaubte durch ihre Nase. »Welche Männer denn, bitte? Ich arbeite drei Vormittage in der Woche an einer Grundschule mit ausschließlich weiblichen Kollegen. Der einzige Mann dort ist der Hausmeister, und ich fürchte, der wäre auch dreißig Jahre jünger nicht mein Typ. Die restliche Zeit verbringe ich mit einem Kleinkind, das mich hartnäckig »Muhkuh« nennt und meine
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