Auf der anderen Seite ist das Gras viel gruener - Roman
den ich euch wirklich nur empfehlen kann. Negroni. Fünf Stück in dreißig Minuten, und man ist ein neuer Mensch.«
Na toll. So viel zu dem magischen Augenblick.
Ich warf Mathias einen bedauernden Blick zu, bevor ich meine Hand (über die er gerade wie zufällig gestreichelt hatte) wegzog und stattdessen Marlenes Hand tätschelte.
»Nee, ehrlich. Das Zeug ist toll. Schon nach dem ersten Drink war mein Bedürfnis, jemanden mit bloßen Händen zu erwürgen, völlig verschwunden.« Marlene hickste noch einmal. »Der zweite hat mich echt zum Lachen gebracht, obwohl es weiß Gott gar nichts zu lachen gibt. Und der dritte … na ja, das Leben ist zwar vollkommen trostlos, aber dieses wattige Gefühl im Kopf hat was. Schade nur, dass mir so übel ist. Vielleicht hätte ich doch zwischendurch mal was essen sollen. Einen Rollmops oder so.« Ihr Handy kündigte eine ankommende SMS an, und sie starrte auf das Display. »Jetzt warte ich darauf, dass mein Gehirn endlich das Denken einstellt. Und dass das Scheißherz nicht mehr so wehtut.«
Und dann fing sie übergangslos an zu weinen. Sie legte ihre Arme auf den Tisch, bettete ihren Kopf hinein und schluchzte bitterlich. Es war schrecklich, sie so zu sehen. Und für einen Augenblick bekam ich es mit der Angst zu tun. Was, wenn Marlene und Javier in diesem Paralleluniversum nicht zusammenkommen würden? Was, wenn es sogar ich selbst war, die durch irgendeine Handlung in die Kausalitätskette der Ereignisse eingegriffen und damit verhindert hatte, dass die beiden miteinander glücklich wurden? Ich hatte schließlich alle »Zurück-in-die-Zukunft«-Filme angeschaut und »Die Frau des Zeitreisenden« gelesen und diese schreckliche Kurzgeschichte von Ray Bradbury, wo der Tod eines einzigen Schmetterlings in der Vergangenheit die Welt verändert hatte … Aber dann sagte ich mir, dass es beim letzten Mal sicher genauso gewesen war wie jetzt, nur dass ich eben von dem ganzen Drama und Marlenes Kummer viel weniger mitbekommen hatte.
Mathias blickte mich fragend an. »Liebeskummer?«, flüsterte er.
Ich nickte.
Er verzog mitleidig das Gesicht und beugte sich zu Marlene hinüber. »Ich weiß, das hilft dir jetzt nicht viel, aber … spätestens in drei Monaten ist dir klar, dass der Typ dich überhaupt nicht verdient hat«, sagte er. Mir flüsterte er zu: »Jedenfalls ist das bei meiner Schwester immer so.«
Marlene hob ihren Kopf und stierte Mathias mit blutunterlaufenen Augen an. »Niemals«, sagte sie. »Es ist genau umgekehrt. Ich bin es, die ihn nicht verdient hat. Javier ist der großzügigste und liebevollste Mensch auf der Welt. Schön, zärtlich, klug, begabt … Und er schreibt so süße SMS, obwohl ich ihm gesagt habe, dass ich sie gar nicht lese … hier! Er hat sogar gedichtet.« Sie fuchtelte mit ihrem Handy in der Luft herum. » Mein Herz kommt zu dir, hält’s nicht aus mehr bei mir. Legt sich dir auf die Brust, wie ein Stein, sinkt hinein, zu dem deinen hinein … das ist ziemlich gut für jemanden, der erst seit vier Jahren Deutsch lernt, oder?«
»Das ist von Christian Morgenstern, jedenfalls beinahe …«, sagte Mathias, verstummte aber, als er meinen Ellenbogen in den Rippen spürte.
»Wunderschön. Zerreißt einem das Herz«, sagte ich. »Warum hattest du gleich noch mal mit diesem schönen, liebevollen, klugen und begabten Mann Schluss gemacht?«
Marlene schniefte. »Weil einer von uns ja vernünftig sein muss. Weil ich viel zu alt für ihn bin. Weil ich ein Kind habe. Weil … Ich glaube, ich muss mich übergeben.« Tatsächlich sah sie ein wenig grün im Gesicht aus. Offenbar war sie im Jahr 2006 noch nicht so trinkfest wie später – da pflegte sie uns alle unter den Tisch zu trinken und anschließend auf demselben zu tanzen. »Könnt ihr machen, dass das mit dem Drehen aufhört?«
Bevor sie vom Barhocker kippen konnte, hakte ich sie energisch unter. Mathias übernahm wortlos die andere Seite, und gemeinsam zogen wir Marlene aus der Bar, quer durch das Foyer bis zu den Damentoiletten. Marlene schaffte es nicht mehr bis in eine der Kabinen, sie erbrach sich mit einem gruseligen Geräusch direkt in das Waschbecken, ein sehr elegantes Teil aus poliertem Marmor.
Leider muss ich sagen, dass es mir ausgesprochen schwerfällt, jemandem beim Erbrechen zuzusehen, ohne selber einen Brechreiz zu verspüren. Eigentlich reicht es schon, die Würgelaute zu hören, von dem Geruch ganz zu schweigen. Und so war es Mathias, der Marlene geistesgegenwärtig
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