Auf der anderen Seite ist das Gras viel gruener - Roman
war er mit Abstand der umwerfendste Mann, den ich jemals getroffen hatte.
»Danach werden wir uns in Kleingruppen an den Tischen zusammenfinden und mit Übungen zur Selbstreflexion beginnen, um anschließend paarweise anhand von Gesprächssituationen aus dem alltäglichen Bereich Problemlösungen mithilfe der erlernten Methoden zu erarbeiten«, sagte Jürgen Wuck mit einer Stimme, genauso milde wie sein Lächeln.
Kleingruppen! Paarweise! Ha! Das war meine Chance.
»Und nun noch einmal tief durch die Nase bis in das Zwerchfell einatmen und die Luft langsam durch den Mund wieder hinausströmen lassen …«
Möglichst lautlos schlich ich mich von meinem Platz und schob mich in die Lücke zwischen Mathias und einer Frau in türkisfarbener Bluse, auf deren Namensschildchen »Sonja« stand. Na ja, eigentlich war da keine richtige Lücke, aber als Sonja ihre Augen öffnete und mich genau einen Zentimeter neben sich stehen sah, machte sie vor Schreck einen Schritt zurück, und – voilà – schon hatte ich genügend Platz. Marlene warf mir von der gegenüberliegenden Seite einen verdutzten Blick zu, aber sonst schien sich keiner zu wundern. Wäre mir auch egal gewesen, Hauptsache, ich war mit Mathias in einer Kleingruppe.
Und was soll ich sagen? Kurz darauf saß ich ihm am Tisch gegenüber. Sonja und Jürgen Wuck höchstpersönlich vervollständigten unsere Kleingruppe, wobei klar war, dass Jürgen es offensichtlich auf Sonja abgesehen hatte, schließlich hatte er sie vorhin schon beim Atmen unterstützt, indem er eine Hand auf ihr, na sagen wir mal wohlwollend, Zwerchfell gelegt hatte.
Mathias warf einen raschen Blick auf mein Namensschildchen und lächelte mir flüchtig zu. Ich gab mir große Mühe, genauso flüchtig zurückzulächeln, anstatt ihn anzustrahlen wie ein außer Kontrolle geratener Christbaum. Ich war aber nicht sicher, ob es mir hundertprozentig gelang.
Jürgen Wuck wollte, dass wir uns im Sinne der Selbstreflexion gegenseitig unsere individuellen Ängste anvertrauten (die Begründung dafür verstand ich nicht, schon gar nicht, was das Wort »olfaktorisch« darin verloren hatte), und ich war sofort entschlossen, die Geschichte von DEM EICHHÖRNCHEN zu erzählen. Im Jahr 2011 hatte ich damit Mathias schon einmal zum Lachen gebracht. Eifrig setzte ich mich gerader hin und wartete auf meinen Einsatz.
Jürgen machte den Anfang. Er hatte Angst vor … Trommelwirbel! … nee, eigentlich gar nichts mehr. Aber früher, als er noch weniger erleuchtet und mehr so wie wir gewesen war (das sagte er nicht wortwörtlich, aber es schwang eindeutig zwischen den Zeilen mit), da hatte er Angst vor dem Sterben gehabt. Also nicht vor dem Tod, nur vor dem Prozess des Sterbens als solchem.
Uiii.
Ich fing einen Blick von Mathias auf und meinte darin zu erkennen, dass er Jürgen genauso scheiße fand wie ich. Umso mehr würde ihn meine EICHHÖRNCHEN-Geschichte erheitern.
Aber erst mal war Sonja dran. Und sie hatte am meisten Angst davor, von ihren Mitmenschen missverstanden zu werden. Weshalb sie auch dieses Seminar besuchte. (Jürgen fand das super und tätschelte ihre Hand.)
Und jetzt Mathias. Ich war sicher, dass er über seine Klaustrophobie sprechen würde und darüber, wie seine Schwester ihn als kleiner Junge in den Schrank gesperrt hatte, aber stattdessen sagte er: »Weihnachtsmänner. Mit falschem Bart und ausgestopftem Bauch.«
Wie bitte?
»Als kleiner Junge hatte ich ein traumatisches Erlebnis mit so einem Kaufhausweihnachtsmann – und seitdem bekomme ich ein ganz mulmiges Gefühl im Magen, wenn ich einen von denen sehe«, fuhr Mathias ernsthaft fort. »Und Herzrasen. Ich kann nichts dagegen tun.«
Jürgen und Sonja nickten betroffen, und Mathias’ Mundwinkel zuckten ganz leicht.
Meine auch. »Was genau hat der Kaufhausweihnachtsmann denn getan?«, erkundigte ich mich angelegentlich.
»Darauf musst du nicht antworten, Mathias, wenn es dir zu intim wird«, sagte Jürgen schnell. Weiß der Himmel, was er dachte.
»Sagen wir einfach, er hat sich nicht rollenkonform verhalten«, erwiderte Mathias und schenkte mir eins seiner unwiderstehlichen Lächeln. Das erste Mal in dieser seltsamen Parallelwelt.
Ich lächelte glücklich zurück.
»Merkt ihr was?«, fragte Jürgen begeistert. »Genau das ist neurolinguistisches Programmieren. Durch diese intimen Dinge, die wir uns hier anvertrauen, also gewissermaßen die introspektive Betrachtung jedes Einzelnen, lösen sich unsere gegenseitigen Vorbehalte
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