Auf der Silberstrasse 800 Kilometer zu Fuss durch die endlosen Weiten Spaniens
Nepal in den Himalaya zur Annapurna und zum Fuße des Mount Everest. Dann kamen die Jakobswege. Erst war es wieder die Neugierde, etwas noch nie Gesehenes, noch nie Gemachtes zu erleben, wieder neue Wege zu entdecken, Spuren zu finden, die ich noch nicht gegangen, Berge, die ich noch nicht erstiegen hatte.
Der erste Jakobsweg machte mich neugierig auf den zweiten, dieser auf den dritten, und so zog ich Jahr für Jahr wieder hinaus auf diesen Wegen ins unbekannte Frankreich und Spanien. Aber dann begann etwas Neues, etwas Anderes, etwas Ungeahntes diese unstillbare Neugier zu überlagern. Es war wie eine Faszination. Ich entdeckte eine Mystik, etwas Heiliges, etwas Religiöses, nach dem ich mein Leben lang gesucht hatte, etwas, was ich weder bei Bhagwan in seinem Ashram noch bei Buddha im Himalaya gefunden hatte. Ich erlebte eine Zwischenwelt zwischen dem Realen der Natur, der Umwelt, durch die ich wanderte und dem Irrealen einer geistigen Welt, einer großen tausendjährigen Vergangenheit, deren Teil ich wurde. Ich fand meinen Heiligen, ich entdeckte meinen Gott wieder, ich tauchte tief in eine längst vergessenene Geschichte ein, wurde einer der langen, endlosen Schar der Pilger vor mir, neben mir und nach mir.
Und so wurde ich süchtig. Immer süchtiger von Mal zu Mal nach diesen stillen, einsamen, menschenleeren Wegen durch unberührte, vergessene Natur, mit nichts als dem staubigen Weg unter mir, dem endlosen, blauen Himmel über mir, den nebelfeuchten Wäldern des Nordens, den sonnenverbrannten Steppen des Südens, dem endlosen Rauschen des Meeres an den sturmumtosten Klippen und dem Säuseln des warmen Windes in den Gräsern. Und dem endlosen Schweigen über einer leeren Landschaft. Ich wurde süchtig nach den honiggelben Städten des Südens, den gigantischen Kathedralen mit ihren Säulenwäldern und toten Heiligenfiguren, den ernsten Bischöfen an den Säulen und den im ewigen Schlaf liegenden steinernen Rittern, den jauchzenden Orgeltönen im dämmrigen Halbdunkel der Kirchen und den klagenden Gaitaspielern unter den Torbögen.
Ich wurde süchtig nach den unzähligen Menschen, die ich traf auf meinen Wegen, den höflichen Franzosen, den lustigen Italienern, den lebendigen Holländern, den gebildeten Deutschen und den verschlossenen Spaniern. Nach den Eseln am Weg, den Kühen auf den Weiden, den Schweinen unter den Eichen, den endlosen Schafherden, die mich umringten und an mir vorbeiflossen.
Und nach den stillen, sonnendurchglühten Wiesen, in denen ich lag unter schattigem Baum, den Ausblicken in die weiten, grünen Täler und auf die endlosen in der Ferne blauenden Höhenrücken, nach dem Schrillen der Zikaden, dem Brummen der Hummeln und den Ameisen, die neben und über mir durch die Gräser krabbelten. Nach dem Einssein und Verschmelzen mit einer übermächtigen Natur, die mich aufnahm in ihre Arme, Mutter Erde, Gaia, Zauberin, Verführerin.
Deshalb wandere ich Jakobswege.
Jakobswege zu gehen ist für mich aber auch die Möglichkeit zu einer Flucht. Flucht vor einer, mich immer mehr einengenden bedrückenden Welt mit Computer, Telefon, Fernsehen. Eine übertechnisierte Welt, die meine Gefühle erdrückt, meine Freiheit unterdrückt, meine Seele bedroht. Der Jakobsweg ist eine Fluchtmöglichkeit aus dieser bedrohenden und letztlich tödlichen Welt.
Wenn ich aus dem Flugzeug steige, den Zug verlasse, die erste Herberge am nächsten Morgen, dringe ich in eine neue, verführerische Welt ein: die Welt der Natur, die Welt des Lebens, Gottes Welt. Ich brauche dazu nicht in den Himalaya zu gehen – da war ich schon – auch die Wüste und die Antarktis brauche ich nicht. Diese Natur liegt am Weg, mein Weg durchquert sie, sie liegt zwei Flugstunden von meiner Wohnung in Frankfurt entfernt: leere, schweigende Wälder, endlose Felder, Wiesen, Steppen und Halbwüsten, menschenleer. Eisenbahn, Straßen, Hochspannungsmasten, all das, was meine Welt zu Hause so sehr beschneidet und einengt, ist auf einmal so weit weg. Ich habe keine Termine mehr, muß nichts mehr besorgen, kein Telefon, kein Handy, kein Fernsehen, keine Tageszeitung, keine Sensationen, Katastrophen, Unfälle, Kriege. Ich streife den Ballast unserer Zivilisationsgesellschaft ab wie die Schlange ihre alte Haut und fliege nackt durch mein Paradies.
Ich tauche in eine heile Welt, eine Welt der Schönheit, der Harmonie, des Friedens. Vögel sind meine Begleiter, Kühe und Schafe meine Freunde, Käfer mein Vergnügen. Bruder Wolf, Schwester Vogel,
Weitere Kostenlose Bücher