Auf der Suche nach Amerika - Begegnungen mit einem fremden Land
sind.
Die unterhalten sich inzwischen weiter. »Was«, so fragt David, »wenn der Kapitalismus den Fortschritt auf einmal nicht mehr befördert, sondern behindert?« – »Das meine ich mit Mut«, antwortet sein Bruder. »Es braucht eine Menge Schneid, um sich gegen die Großkonzerne durchzusetzen.« Claudia, die lange geschwiegen hat, schaut mich an: »Vielleicht ist das Konzept der Packers auch deshalb so wichtig für viele Leute. Wegen all dem, worüber wir jetzt gesprochen haben. Wegen all der Träume und Hoffnungen.«
Ich fahre weiter, Richtung Norden. Joe hatte gelacht, als ich darüber klagte, wie enttäuschend ich die Landschaft in Wisconsin fand. Ich sei in der falschen Gegend. »Hier wird mehr Papier hergestellt als irgendwo sonst auf der Welt. Das ist ein Industriegebiet.« Wenn ich nach Norden führe, sei es eine ganz andere Gegend. Aber ich solle mich nicht täuschen lassen: Auch dort, wo es nach nettem Landleben aussähe und an die Fernsehserie Unsere kleine Farm erinnere, sei es in Wirklichkeit nicht so nett. »Viele Bauernhöfe gehen kaputt. Sie werden von Großkonzernen entweder aufgekauft oder doch zumindest bewirtschaftet. Alles sieht noch genauso aus wie früher, aber die wirtschaftlichen Verhältnisse haben sich vollständig geändert. Man kann eine Familie nicht mehr von 60 Hektar ernähren. Die Farmer von einst arbeiten in einer Papierfabrik und lassen ihr Land von einem Großbetrieb bewirtschaften.« Ja, das mache ihn traurig. »Wie Huxley so bitter schrieb: Es ist eine schöne neue Welt.«
Joe Ilg hatte recht: Die Landschaft wird schöner. John Steinbeck hatte auch recht: Das Licht ist unvergleichlich. Den Nachmittag über hatte es geregnet und war fast dunkel gewesen. Jetzt reißt unter grauen Wolken hinter wirbelndem Herbstlaub fern am Horizont der Himmel auf. Wie mit dem Lineal gezogen, hellblau leuchtend, in dieser ganz besonderen Klarheit unmittelbar vor dem Sonnenuntergang. Wenn ich den Weg zum Paradies illustrieren müsste: hier würde ich ein Foto machen.
Allerdings lande ich an diesem Abend nicht im Paradies, sondern in einem Motel irgendwo zwischen den Kleinstädten Tomahawk und Prentice, wo außer mir noch sehr viele Vogeljäger übernachten. Die sich gut verstehen, viel Spaß haben und ihrer überschäumenden Lebensfreude bis tief in die Nacht hinein lärmend Ausdruck verleihen. Das bringt einen von allen metaphysischen Überlegungen schnell wieder auf den Boden zurück. Und zu der Erkenntnis, dass ein Tag noch so schön und interessant gewesen sein kann – man hat an seinem Ende nicht zwangsläufig freundliche Gedanken.
Am nächsten Morgen aber schon. Der Himmel ist wolkenlos. Wie viel schöner man ein Land doch findet, wenn man gut gelaunt ist und die Sonne scheint. Die Fahrt führt vorbei an freundlichen Farmhäusern und Wiesen, auf denen Pferde grasen, vorbei an strahlend weißen Kirchen. Und an hohen Getreidesilos mit runden Dächern, die aussehen wie Phallussymbole und nicht recht in die Landschaft passen. Der Spätherbst entfaltet seine letzte Kraft. Fast unwirklich dunkelblau sind die vielen kleinen Seen, an denen ich vorbeikomme. Bäume, noch immer übergossen von leuchtendem Gelb, stehen neben anderen, die bereits kahl und entlaubt sind. Über fünf Kilometer folge ich einer Schotterstraße – plötzlich taucht ein Hirsch mit riesigem Geweih vor mir auf. Verharrt kurz und jagt in den Wald davon. Gefolgt von seiner Gefährtin, die aus dem Gebüsch springt.
Auf den Ortsschildern steht die Zahl der Einwohner des jeweiligen Dorfes: 321, 426, 298. Wie ist das, wenn man sein ganzes Leben hier verbringt, jeden kennt, alles von den anderen weiß? Wenig später werde ich es erfahren. Es ist offenbar in mancher Hinsicht anders, als ich mir das vorstelle. Der Glaube, dass man in einem kleinen Nest alles über die Nachbarn weiß, ist für mich nach diesem Tag widerlegt.
Auf einer abgelegenen Farm im Ort Conrath, in dem weniger als 100 Leute wohnen und der formal zu der Kleinstadt Ladysmith mit ihren etwa 4000 Einwohnern gehört, veranstaltet Laura Dutter-Nelson einen Garage-Sale, einen privaten Flohmarkt. Was man nicht mehr braucht oder will, ist anderen vielleicht ein paar Dollar wert. Also hat Laura abgelegte Kleider, Geschirr, Gartenmöbel, Bücher und CDs in und vor ihrer Garage aufgebaut und wartet auf Kunden. Hinter der ochsenblutroten Scheune grasen auch hier Pferde, vor dem Haus steht eine Kinderschaukel. »Entschuldigen Sie den ungemähten Rasen«, sagt Laura zur
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