Auf der Suche nach Amerika - Begegnungen mit einem fremden Land
geräumigen, schlichten Raum steht. Bisher hat Justine Murray nur 230 Dollar im Monat an Miete zahlen müssen, noch einmal dieselbe Summe kam als staatliche Unterstützung hinzu. Die wird demnächst wegfallen, weil die Köchin dafür inzwischen zu viel verdient. Aber das macht ihr keine Sorgen: »Ich bin noch lange nicht am Ende meiner Möglichkeiten. Es gibt so viel, was ich machen kann.« Gerade hat sie ein Angebot bekommen, für Partys ein Büfett zu liefern. Ich bin überzeugt, dass es den Gästen schmecken wird. Das selbst gemachte Sushi, das sie mir an diesem Abend vorsetzt, ist hervorragend.
Die elfjährige Cora kommt herein. Sie bittet ihre Mutter um Geld, damit sie am nächsten Tag ein Geburtstagsgeschenk für eine Freundin kaufen kann. Justine gibt ihr fünf Dollar. »Es ist schön, dass so etwas kein Problem mehr ist«, sagt sie. »Wissen Sie, ich habe das Gefühl, mir selber etwas bewiesen zu haben. Und es geschafft zu haben.« Doch, ja, sie sei stolz auf sich.
Viertes Kapitel Die Suche nach neuen Ufern und die Vertreibung aus dem Paradies
»In Leavenworth müssen Sie übernachten«, war mir in Sandpoint geraten worden. Die Hotelangestellten nahmen regen Anteil an meinen Plänen, seit ich mit Justine gesprochen hatte. »Sie stammen doch aus Bayern – da fühlen Sie sich dann wie zu Hause.« Es ist erstaunlich, wie weitverbreitet die Annahme ist, man wolle in der Fremde vor allem die Heimat wiederfinden.
Zunächst geht es jedoch nach Spokane im Bundesstaat Washington. Theoretisch liegt das knapp 50 Kilometer östlich von Coeur d´Alene in Idaho, aber beide Städte sind zu einem riesigen Moloch zusammengewachsen. Ein nicht enden wollender Teppich von Einkaufszentren, Motels und Tankstellen beginnt schon lange vor der eigentlichen Stadtgrenze. Charley, der Hund von John Steinbeck und sein Reisebegleiter, war in Spokane krank und hatte auch noch das Pech, an einen unfähigen Tierarzt zu geraten. Ich verstehe nicht, wie irgendein Lebewesen in dieser Umgebung gesund bleiben kann.
Ein paar Kilometer weiter ändert sich die Landschaft. Vorbei ist es zunächst mit den schroffen Felsen und den endlos scheinenden Nadelwäldern von Idaho. Große Weiden und Felder liegen in einer weiten Ebene, sanfte Hügel hinten am Horizont. Eine schöne und beruhigende Gegend, aber auch ein bisschen eintönig. Es bleibt nicht lange so. Erneut verändert sich die Vegetation. Obstbäume statt Felder, die Gegend wird wieder bergiger. Plötzlich ein steiler Pass: Ich bin im Kaskaden-Gebirge, das sich von Kanada bis Nordkalifornien zieht. Und erreiche wenig später Leavenworth.
Dort soll ich mich also zu Hause fühlen? Na ja. Vermutlich fänden Indianer die Karl-May-Festspiele in Bad Segeberg auch etwas seltsam. Alte Lüftlmalerei an oberbayerischen Bauernhäusern hat wenig zu tun mit dem Dekor hiesiger Etablissements, das aussieht wie mit der Schablone gemalt. Auf den Speisekarten steht die Schweinshaxe neben dem Hamburger, bei Veranstaltungen spielt die »Edelweiss Tanzgruppe«. Disneyland auf Bayerisch. Dennoch: Man vermutet Sehnsucht, denkt an heimwehkranke, traditionsbewusste Pioniere und ist gerührt. Man vermutet falsch.
Leavenworth, ursprünglich ein Ort der Holzindustrie, kämpfte ums Überleben, seit die Streckenführung der Great Northern Railroad 1927 so geändert worden war, dass die Eisenbahn hier nicht mehr hielt. Lange sah es so aus, als ob Leavenworth zu einer weiteren Geisterstadt werden würde – da hatte 1962 ein Komitee die rettende Idee: Wir machen aus unserem Dorf einen bayerischen Fremdenverkehrsort. Das kurbelt den Tourismus an.
Es hat funktioniert. Gut sogar. Jedes Jahr kommen nach Angaben der Gemeinde 2,5 Millionen Besucher hierher – mehr als tausendmal so viel, wie Leavenworth Einwohner hat! – und viele bleiben über Nacht. Sie wohnen im »AlpenRose Inn«, im »Ritterhof«, im »Edelweiss Hotel« oder im »Linderhof Inn«, das mit zwei Buben in Lederhosen für sich wirbt. Die Frau in einem Motel, in dem ich nach einem Zimmer frage, trägt etwas, das in Hamburg vielleicht als Dirndl bezeichnet werden würde. Aber ich will mich gar nicht lustig machen. Die Idee hat die Stadt gerettet, immerhin. Das ist ja nicht wenig.
Trotzdem habe ich keine Lust hier zu übernachten, schon deshalb nicht, weil es nirgendwo ein Raucherzimmer mit Internetzugang gibt. Man darf entweder rauchen – oder man hat Netz. Was interessante Rückschlüsse darauf zulässt, wie man uns Raucher sieht. Offenbar hält man uns
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