Auf der Suche nach dem Auge von Naga: Roman (German Edition)
Waffen.«
So wurde es gemacht. Knapp eine Stunde später erklommen sie den Hügel, passierten die Bäume, stiegen auf der anderen Seite hinab, mühten sich den nächsten Hang empor und krochen auf dessen Gipfel. Von dort überblickten sie die im Zwielicht vor ihnen liegende Ebene auf der anderen Seite. Die Sonne war gerade untergegangen, und der westliche Horizont leuchtete blutrot. Der Himmel darüber erstrahlte in tiefem Violett, gesprenkelt von hellen Sternen.
Das Land unter ihnen war deutlich grüner als das Terrain, das sie soeben hinter sich gelassen hatten. Offensichtlich waren breite Abschnitte bewässert worden. Es gab Getreidefelder und zahlreiche Bäume, die lange Schatten warfen.
Ein Stück nördlich beherrschte ein gigantischer, grün getupfter Kamm die ansonsten flache Landschaft. Unmittelbar südlich davon, genau vor ihnen, befand sich eine kleine Ortschaft, kaum mehr als eine weitläufige Ansammlung von Holzhäusern und Hütten mit wenigen größeren Gebäuden in der Mitte.
Lichter blitzten entlang der östlichen und nördlichen Grenzen, und der Lärm von Schüssen peitschte durch die afrikanische Nacht.
Burton flüsterte: »Die Preußen belagern Kazeh!«
Getrennte Wege
Wir sehen die Dinge nicht so, wie sie sind,
sondern so, wie wir sind.
AUS DEM TALMUD
D ie Pflanze besaß annähernd die Form eines Bootes. Sie bewegte sich auf dicken weißen Wurzeln, die verworren unter ihrem plumpen, lang gestreckten Stiel wuchsen. Die Blüten schmiegten sich um die Körper der Männer, die darin saßen, und bildeten bequeme Sitze.
Sir Richard Francis Burton befand sich in einer der mittleren Blumen. Generalmajor Paul Emil von Lettow-Vorbeck saß neben ihm. Die anderen Pflanzen waren von Schutztruppen besetzt. In den Kopf jedes Fahrers drangen unmittelbar über den Ohren dornige Ranken, mit deren Hilfe er das Fahrzeug steuerte. Der Soldat neben ihm kauerte hinter einer Samenschote, die in Burtons Augen wie ein montiertes Geschütz aussah. Vom Heck der Pflanze wölbten sich drei lange Blätter wie eine Markise nach oben und vorn, um die Passagiere vor der Sonne zu schützen.
Es war ein bizarres, aber äußerst schnelles Fortbewegungsmittel.
Sie hatten Stammlager IV in Ugogi am Vortag verlassen und reisten entlang eines deutlich erkennbaren Pfades – fast einer Straße – in westliche Richtung.
Während sich um sie her die Landschaft entfaltete, erblühte inBurtons Innerem etwas anderes: Seine verlorenen Erinnerungen kehrten zurück, und jede fügte sich mit einem so heftigen Stich in sein Bewusstsein, dass ihm Wasser in die Augen schoss und ein eigenartiges Gefühl in seine Nebenhöhlen stieg, als hätte er versehentlich Schießpulver statt Tabak geschnupft.
Er erkannte die Wüste Marenga M’khali wieder. Eine grasbewachsene Ebene, ein Dschungel, sanfte, hügelige Savannen – das alles hatte er schon einmal gesehen. Jeder Hügel, jeder Nullah war ihm vertraut. Er war diese Strecke entlangmarschiert. Als er sich an seine Gefährten von damals erinnerte, überkam ihn Trauer ob deren vorzeitigem Tod. Und er wusste wieder, wer Al-Manat gewesen war.
Isabel? Was ist aus dir geworden?
Als hätte Lettow-Vorbeck seine Gedanken gelesen, fragte der Offizier: »Diese Straße ist auf dem alten Pfad errichtet, dem Sie vor vielen Jahren gefolgt sind, nicht wahr?«
»Ich glaube schon.«
»Und die andere Strecke, die im Norden parallel dazu verläuft, ist jetzt unsere Tanganjika-Eisenbahn, die das Großdeutsche Reich benutzt, um Afrika die Zivilisation zu bringen, und die von Ihren Leuten mit so beharrlicher Regelmäßigkeit angegriffen und sabotiert wird.«
Burton zuckte mit den Schultern. Er hatte diesen Krieg satt, mehr noch: Er war das gesamte zwanzigste Jahrhundert leid.
Die Pflanze raste über staubiges Gelände und erklomm die Ugogo-Region.
»Noch zweihundert Meilen nach Westen«, teilte der Generalmajor ihm mit, »dann schwenken wir nach Norden, um Tabora zu umgehen. Eine Unannehmlichkeit, gewiss, aber wir werden sie nicht mehr lange ertragen müssen.«
»Spielen Sie auf ›endgültige Lösung‹ an, die Sie erwähnt haben?«, fragte Burton.
»Ja. Sie ist in diesem Augenblick unterwegs. Wir haben ein großes fliegendes Schiff, die L.59 Zeppelin , die dem Fluss ins Landesinnere folgt, von dem Sie so besessen sind. Ich spreche natürlich vom Nil.«
Ein weiterer fehlender Teil von Burtons Gedächtnis fügte sich jäh an seinen Platz und ließ ihn unwillkürlich nach Luft
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