Auf der Suche nach dem Auge von Naga: Roman (German Edition)
abrupt. Einen Moment lang herrschte völlige Stille. Dann setzte ein abgehacktes Gebrüll ein, als Tausende Schusswaffen abgefeuert wurden. Eine Explosion erschütterte den Hafen.
Unter sich zu seiner Linken sah Burton eine lange Reihe britischer Askaris aus dem Unterholz hervorkommen, die vorsichtig in die Ortschaft vorrückten. Kaum hatten die Männer die erste Hütte passiert, gerieten sie in einen Kugelhagel, der aus Fenstern und Türen entfesselt wurde. Als die Soldaten auf der Suche nach Deckung auseinanderstoben, wobei viele von ihnen fielen, stieß Wells wild hervor: »Verfluchter Mist!«
Eine verirrte Kugel zischte an ihm vorbei und schlug in einen Baum ein.
»Runter!«, rief Burton. Die beiden Beobachter hechteten auf den Boden, legten sich ausgestreckt hin und beobachteten voll Grauen, wie die Askaris von dem Kreuzfeuer zerfetzt wurden. Schnell wurde deutlich, dass sich in sämtlichen Hütten und Häusern bewaffnete Männer versteckt gehalten hatten. Tanga war keine Ortschaft, die darauf wartete, erobert zu werden – es war eine Falle.
Eine Schwadron Askaris stürmte vorwärts. Die Männer warfen sich hin und schleuderten Granaten. Explosionen zersprengten Holzbehausungen und jagten Rauchsäulen hoch in die Luft. Ähnliche Szenen spielten sich im Süden der Ortschaft ab, als die verbündeten Streitkräfte sich vorankämpften. Hunderte Männer fielen, aber dank ihrer schieren Zahl gelang es ihnen, nach und nach vorzurücken.
Eine Abfolge von Detonationen bestürmte Burtons Trommelfelle, als die HMS Fox Geschosse in die Mitte der Siedlung abfeuerte. Kolonialhäuser gingen in Wolken aus Ziegelstein, Mauerwerk und Glas auf.
»Das war’s für den Verwaltungssitz der Deutschen!«, brüllte Wells. »Wenn wir Glück haben, war Lettow-Vorbeck in einem der Gebäude.«
Ein Skorpionspanzer kam aus dem Rauch hervor und krochauf eine Straße unmittelbar unter ihnen. Die Kanone an seinem Schwanz jagte ein Geschoss nach dem anderen in die Häuser, von denen mittlerweile viele in Flammen standen. Als ein deutscher Soldat aus einem Eingang gerannt kam, schnellte eine der Klauen des Skorpions nach vorn, schloss sich um den Körper des Mannes und riss ihn entzwei.
Auch Weberknechte rückten in die Stadt vor, schossen mit ihren Gatling-Geschützen und heulten ihr schauerliches »Uuuaaa! Uuuaaa!«
Vierzig Minuten später passierten die letzten der Soldaten, mit denen Burton und Wells hergereist waren, ihren Beobachtungspunkt und drangen in die zentralen Gefilde von Tanga vor. Der Lärm bestätigte, dass die Schlacht noch längst nicht zu Ende war, aber sie entzog sich mittlerweile Burtons und Wells’ Blickfeld, deshalb konnten sie die Entwicklung nur noch anhand der Geräusche und des aufsteigenden Rauchs beurteilen. Im Osten war eine besonders rasche, heftige Abfolge von Detonationen zu vernehmen. Kurz darauf sichtete Wells die britische Flagge, die an einem Fahnenmast auf dem Dach eines großen Gebäudes gehisst wurde.
»Das ist das Hotel Nietzsche!«, rief der Kriegsberichterstatter.
Schmerzen schossen durch Burtons Kopf. »Nietzsche!«, stieß er atemlos hervor. »Ich kenne diesen Namen. Wer ist er?«
»Bismarcks Berater«, antwortete Wells. »Der zweitmächtigste Mann des Großdeutschen Reiches.«
»Er … er wird … Bismarck verraten!«, sagte Burton heiser. »Er wird das Reich übernehmen. Noch dieses Jahr!«
Wells musterte seinen Gefährten mit verwirrter Miene. »Wie kannst du das wissen? Du kommst aus der Vergangenheit, nicht aus der Zukunft.«
Burton keuchte vor der Mühe, die es ihm bereitete, sich zu erinnern. »Ich … es hat etwas … mit Rasputin zu tun.«
»Wenn Ras…«
»Warte!«, schnitt Burton seinem Freund das Wort ab. »1914. Wir haben 1914. Rasputin stirbt in diesem Jahr. Ich habe ihn getötet!«
»Was du da sagst, ergibt keinen Sinn, Mann!«
Burton ließ den Kopf hängen und knirschte frustriert mit den Zähnen. Ein winziger Flecken Erde wölbte sich vor seinem Gesicht nach oben, und ein grüner Trieb spross daraus hervor. Erstaunt beobachtete er, wie die Pflanze vor seinen Augen rasant wuchs. Sie knospte, und ihre Blume öffnete sich – alles mit phänomenaler Geschwindigkeit.
Es handelte sich um eine rote Mohnblume.
Plötzlich ergriff Wells den Arm des Entdeckers. »Was ist das da drüben?«
Burton schaute auf und sah, dass von verschiedenen Stellen in der Ortschaft fette schwarze Schwaden emporstiegen und sich rankten und wanden, als wären sie lebendig.
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