Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
entfernen. Sie lud die beiden jungen Männer zu ihrer Matinee ein ebenso wie die Herzogin von Guermantes, der sie noch etwas speziell ans Herz zu legen hatte:
»Vergiß nicht, Gisèle und Berthe« (den Herzoginnen von Auberjon und von Portofino) »zu sagen, daß sie etwas vor zwei Uhr da sein sollten, um mir zu helfen«, sagte sie, ganz wie sie zu irgendwelchen gemieteten Lohndienern geäußert hätte, sie möchten etwas früher da sein, um die Fruchtschalen anzuordnen.
Ihre fürstlichen Verwandten bedachte sie ebensowenig wie Monsieur de Norpois mit jenen Liebenswürdigkeiten, die sie für den Historiker, Cottard, Bloch oder mich aufwendete, und jene schienen für sie nur deshalb interessant, weil sie sie unserer Neugier zur Nahrung vorlegen konnte. Sie war sich eben bewußt, daß sie mit Menschen keine Umstände zu machen brauchte, für die sie nicht eine mehr oder weniger glänzende Dame dergroßen Welt war, sondern die empfindliche und mit Rücksicht zu behandelnde Schwester ihres Vaters oder ihres Onkels. Es hätte ihr gar nichts genützt, ihnen gegenüber glänzen zu wollen, denn nichts hätte jene über die Stärke oder Schwäche ihrer Position getäuscht, da sie ja ihre Geschichte besser als irgend jemand kannten und in ihr das berühmte Geschlecht respektierten, aus der sie hervorgegangen war. Vor allem aber waren sie für sie nichts weiter mehr als ein abgestorbener Restbestand, der keine Früchte mehr tragen würde: sie würden sie weder mit ihren neuen Freunden bekanntmachen noch ihre Freuden mit ihr teilen. Sie konnte nichts sonst von ihnen erlangen als ihre Anwesenheit oder die Möglichkeit, von ihnen bei ihrem Fünfuhrempfang zu sprechen, wie später in ihren Memoiren, von denen jener nur eine Art Generalprobe darstellte, eine erste Lesung vor einem kleinen Kreis. Die Gesellschaft, die zu interessieren, zu blenden, zu fesseln diese vornehmen Verwandten ihr dienten, die der Cottards, der Blochs, die von berühmten Theaterschriftstellern und Historikern der Fronde in jeglicher Spielart, war für Madame de Villeparisis – in Ermangelung jenes Teils der eleganten Welt, der bei ihr nicht verkehrte – diejenige, in der Bewegung, Erneuerung, Zerstreuung und Leben waren; aus diesen Leuten konnte sie gesellschaftliche Vorteile ziehen (um derentwillen es sich wohl lohnte, ihnen manchmal, ohne daß sie sie jemals kennenlernten, Gelegenheit zu geben, der Herzogin von Guermantes zu begegnen): Abendeinladungen mit bedeutenden Männern, deren Arbeiten sie interessiert hatten, eine Operette oder eine fertig einstudierte Pantomime, die der Autor bei ihr aufführen ließ, und Logen für besonders interessante Vorstellungen. Bloch stand auf, um zu gehen. Laut hatte er zwar verkündet, daß die Sache mit der umgeworfenen Blumenvase gar nicht so wichtig sei; was er aber leise sagte, lautete freilich anders und wich auchnoch von dem, was er bei sich dachte, ab: »Wenn man keine genügend bewanderte Bedienstete hat, die eine Vase so hinstellen können, daß die Besucher nicht Gefahr laufen, sich zu durchnässen oder sogar zu verletzen, sollte man lieber auf all diesen Luxus verzichten«, brummte er leise. Er gehörte zu den empfindlichen und »nervösen« Leuten, die nicht ertragen können, eine Ungeschicklichkeit begangen zu haben, sich diese allerdings nicht eingestehen und den ganzen Tag durch sie verderben lassen. Wütend gab er sich den düstersten Gedanken hin und beschloß, keinen Schritt mehr in die Gesellschaft zu tun. In solchen Augenblicken braucht man etwas Zerstreuung. Glücklicherweise sollte gleich darauf Madame de Villeparisis ihn zurückhalten. Sei es, daß sie die Meinungen ihrer Freunde kannte und von der steigenden Flut des Antisemitismus wußte, sei es aus Zerstreutheit, jedenfalls hatte sie ihn den Anwesenden nicht vorgestellt. Er aber, der wenig weitläufig war, glaubte, daß er beim Gehen sie gleichwohl grüßen müsse, um Savoir-vivre an den Tag zu legen, doch ohne Liebenswürdigkeit; er neigte mehrmals seine Stirn, vergrub das bärtige Kinn in den Vatermörder und musterte jeden einzelnen durch seinen Zwicker mit kalter, verdrossener Miene. Doch Madame de Villeparisis hielt ihn auf; sie wollte noch mit ihm von dem kurzen Einakter sprechen, der bei ihr aufgeführt werden sollte, und außerdem wünschte sie nicht, daß er gehe, ohne die Genugtuung einer Begegnung mit Norpois gehabt zu haben (den sie mit Verwunderung immer noch ausbleiben sah), und obwohl dieses gegenseitige Bekanntmachen
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