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Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Titel: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Proust
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völlig unbekannt sei.
    »Ich kenne allerdings jemanden, der Vinteuil heißt«, sagte Swann im Gedanken an den Klavierlehrer meiner Großtanten.
    »Das ist er vielleicht?« rief Madame Verdurin.
    »O nein«, gab Swann lachend zurück. »Hätten Sie ihn zwei Minuten gesehen, würden Sie sich diese Frage nicht stellen.«
    »Heißt dann die Frage stellen sie auch beantworten?« bemerkte der Doktor dazu.
    »Aber er könnte ein Verwandter sein«, fuhr Swann in seiner Betrachtung fort. »Das wäre allerdings traurig genug, aber schließlich kann ein Genie einen Vetter haben, der ein alter Esel ist. Wenn das stimmte, würde ich freilich kein Opfer scheuen, damit der alte Esel mich dem Schöpfer der Sonate vorstellte; das erste bestände gleich darin, den Alten aufzusuchen, das wäre an sich schon arg genug.«
    Der Maler wußte zu berichten, Vinteuil sei zur Zeit sehr krank und Doktor Potain fürchte, ihn nicht retten zu können.
    »Was?« rief Madame Verdurin, »es gibt also wirklich noch Leute, die sich von Potain behandeln lassen?«
    »Madame Verdurin«, gab Cottard in affektiertem Ton zu bedenken, »Sie vergessen, daß Sie von einem meiner Kollegen sprechen, einem meiner Lehrer sogar, wenn ich so sagen darf.«
    Der Maler hatte gehört, Vinteuil sei von geistiger Umnachtung bedroht, und behauptete, man merke das auch an gewissen Stellen seiner Sonate. Swann fand diese Bemerkung nicht unbedingt abwegig, doch sie störte ihn, denn da reine Musik keine der logischen Beziehungen enthält, deren Verwirrung in der Sprache auf Wahnsinn hinweist, kam ihm der in einer Sonate festgestellte Wahnsinn ebenso unfaßbar vor wie der einer Hündin oder eines Pferdes, der aber doch tatsächlich vorkommt.
    »Lassen Sie mich doch mit Ihren Lehrern zufrieden, Sie wissen zehnmal soviel wie er«, antwortete Madame Verdurin dem Doktor im Tone einer Person, die den Mut ihrer Überzeugung besitzt und tapfer allen denen entgegentritt, die nicht der gleichen Ansicht sind wie sie. »Sie bringen wenigstens Ihre Patienten nicht um!«
    »Aber Madame Verdurin, er ist Mitglied der Akademie«, entgegnete der Doktor in ironischem Ton. »Wennein Patient nun einmal lieber von der Hand eines Fürsten der Wissenschaft stirbt … Es ist doch viel eleganter, wenn man sagen kann: ›Ich werde von Potain behandelt.‹«
    »Ach nein, eleganter ist das?« fragte Madame Verdurin. »Dann trägt man jetzt also auch Eleganz bei Erkrankungen, ja? Das wußte ich noch nicht … Nein, wie furchtbar komisch!« rief sie plötzlich aus und verbarg das Gesicht in den Händen. »Und ich arglose Person unterhalte mich darüber allen Ernstes mit Ihnen und merke nicht einmal, daß Sie mich zum besten halten.«
    Verdurin, der es zu anstrengend fand, wegen einer solchen Kleinigkeit zu lachen, begnügte sich mit einem kräftigen Zug an seiner Pfeife und dachte kummervoll bei sich, daß es für ihn eben ganz unmöglich sei, in puncto Liebenswürdigkeit es seiner Frau gleichzutun.
    »Sie müssen wissen«, sagte Madame Verdurin zu Odette in dem Augenblick, als diese sich verabschiedete, »Ihr Freund gefällt uns sehr. Er ist so schlicht, so reizend; wenn Sie immer nur solche Freunde vorzustellen haben, bringen Sie sie ruhig mit.«
    Verdurin gab zu bedenken, daß er wenig Wertschätzung für die Tante des Pianisten gezeigt habe.
    »Er hat sich hier bei uns noch etwas fremd gefühlt, dieser Mann« meinte Madame Verdurin, »du kannst ja nicht verlangen, daß er das erste Mal schon den Ton des Hauses trifft wie Cottard, der seit Jahren zu unserem ›kleinen Clan‹ gehört. Das erste Mal zählt noch nicht, außer um Fühlung zu nehmen. Odette, es ist abgemacht, daß er uns morgen im Châtelet 1 trifft. Holen Sie ihn nicht vielleicht ab?«
    »Ach nein, er möchte das nicht.«
    »So, na ja! Wie Sie wollen. Hauptsache, daß er uns nicht im letzten Augenblick versetzt.«
    Zur großen Verwunderung von Madame Verdurinversetzte er sie nie. Er traf sich mit ihnen an jedem beliebigen Ort, manchmal in Gaststätten der Banlieue, die man noch wenig besuchte, denn es war noch zu früh im Jahr, häufiger im Theater, dem Madame Verdurin sehr zugetan war, und als sie eines Tages bei sich zu Hause in seiner Gegenwart bemerkte, daß sie für die Premieren- und Galaabende gut einen Passierschein brauchen könnten und einen solchen zum Beispiel bei der Beerdigung von Gambetta 1 sehr vermißt hätten, erklärte Swann, der niemals von seinen glanzvollen Beziehungen sprach, sondern nur von seinen minder erlesenen,

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