Auf der Suche nach Italien: Eine Geschichte der Menschen, Städte und Regionen von der Antike bis zur Gegenwart (German Edition)
unangefochten, und die Regierung in Rom ließ sie gewähren, erhielt sie doch im Gegenzug wertvolle Wählerstimmen. Geplante Reformen konnten auf diese Weise nach Belieben blockiert oder manipuliert werden.
Ende des 19. Jahrhunderts vertiefte sich die Kluft zwischen Armut und Reichtum wie im übrigen Italien und in weiten Teilen Europas auch in Sizilien. Im Westen der Insel hatte die Familie Florio mit einer Schifffahrtsgesellschaft, mit Schwefel und Wein ein riesiges Vermögen gemacht. Die englische Familie Whitaker baute mit ihren Gewinnen aus dem Anbau von Marsala-Wein prachtvolle Villen und ein Palais im Stil der venezianischen Gotik in Palermo. Der exotische, fast orientalische Charakter der Hauptstadt führte Angehörige nordeuropäischer Königshäuser nach Sizilien, die hier auf ihren Yachten Ferien machten, unter ihnen Kaiser Wilhelm II. und der englische König Edward VII. In der Ära der Belle Époque führte die vornehme Gesellschaft Palermos ein unbeschwertes Leben mit Bällen, Pferderennen und eleganten Abendgesellschaften, das so hochherrschaftlich und glamourös war, dass sogar Stars wie Sarah Bernhardt und Giacomo Puccini angelockt wurden. Doch dieser Glanz währte nur ein paar kurzlebige goldene Jahre, bis der Reichtum verprasst und eine Epoche zu Ende war, über die das Erdbeben in Messina 1908 seine düsteren Schatten warf. Am Ende seines Lebens blickte Herzog Fulco di Verdura, der sein Vermögen als Schmuckdesigner und Juwelier in New York gemacht hatte, auf die Gartenfeste jener Epoche zurück:
Damen in Seidenkleidern undgroßen blumenbeladenen Hüten, den unerlässlichen Federboas […]. Ein Kommen und Gehen der Herren, in mehr oder weniger helles Grau gekleidet, den Strohhut unter dem Arm, […] von Kavallerieoffizieren in bauschigen Reithosen. […] Ein riesiges gestreiftes Zelt mit spitzem Dach wurde auf der Rasenfläche aufgeschlagen. […] Aber dieser fürstliche Prunk beeindruckte uns Kinder weniger als der Anblick der weiß gedeckten Tische, auf denen sich in protziger Fülle alle guten Gaben Gottes häuften: unzählige Süßigkeiten, Pyramiden von Erdbeeren, Berge von Sorbet und granite . *217
Aber Palermo war nicht nur eine Stadt des Luxus, sondern auch des Elends. Die Hauptstadt und ihre Provinzen waren recht- und gesetzloses Territorium, man übte Selbstjustiz, ohne auf staatliche Richter zu hoffen. Die Mordrate in Sizilien war 14 Mal so hoch wie in der Lombardei. Viele Gewalttaten gingen auf das Konto der undurchschaubaren Mafia, aber vielfach gab es dafür auch soziale Ursachen. In den 1890er Jahren kam es immer wieder zu Bauernaufständen, sei es gegen die Maßnahmen der Regierung oder deren Untätigkeit. Sie protestierten gegen die Knappheit von Ackerland, die hohen Pachtzinsen, die steigenden Lebensmittelpreise (eine Folge von Crispis »Getreidegesetzen«) und die ungerechten Steuern, insbesondere die Mahlsteuer, ein Symbol der Repression seit der spanischen Herrschaft. Soziale Unruhen führten zur Gründung der Bewegung der fasci siciliani , linken Zusammenschlüssen von Kleinbauern, die zum Streik aufriefen, zur Landbesetzung und manchmal auch dazu, die Steuerämter in Brand zu stecken. Wie die Faschisten des nachfolgenden Jahrhunderts benannten auch sie sich nach den lateinischen fasces (den Rutenbündeln mit einer Axt, Amtssymbol des Römischen Reichs), aber abgesehen davon hatten die beiden Bewegungen nichts miteinander gemein.
Crispi, Ende 1893 zum zweiten Mal Ministerpräsident, betrachtete die fasci als Vorreiter der Revolution. In einem Schritt, der seinen früheren politischen Kampfgefährten entsetzt hätte, verhängte dieser einstige Garibaldiner den Belagerungszustand, verbot die fasci und ließ deren Anführer verhaften und auf Gefängnisinseln deportieren. Angst und die Erinnerung an seine eigene radikale Vergangenheit mögen es gewesen sein, die Crispi anschließend bewogen, eine Landreform anzugehen, die auch die Enteignung der Latifundien vorsah, doch sein Vorschlag stieß auf den Widerstand der Grundbesitzer und anderer Konservativer im Parlament. Das Scheitern dieses Plans besiegelte die Aussichtslosigkeit eines Lebens im Süden. In den folgenden 20 Jahren verließen Millionen Menschen aus Sizilien und dem süditalienischenFestland ihre Heimat und wanderten nach Nord- und Südamerika aus.
Doch auch wer blieb, fühlte sich dem neuen Staat fremd. Die Industrie Süditaliens lag im Argen, die Landwirtschaft war im Niedergang begriffen, und die Armut trieb
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