Auf der Suche nach Italien: Eine Geschichte der Menschen, Städte und Regionen von der Antike bis zur Gegenwart (German Edition)
verstünden. Während die Marine Palermo beschoss, wütete das Heer unter den Aufständischen, verhaftete und exekutierte Sizilianer.
Siziliens Streben nach Autonomie war jedoch nicht neu. In den vergangenen 600 Jahren war es immer wieder zum Volksaufstand gekommen, viermal allein in den vorausgehenden 50 Jahren. Bis heute steht das Thema auf der politischen Tagesordnung, obwohl die Insel inzwischen einen autonomen Status genießt. Cavour hatte diese Stimmung registriert und versprochen, den Autonomiewunsch zu erfüllen, wenn die Sizilianer für die Annektierung stimmten. Als sie es getan hatten, änderte er seine Meinung und trieb die »Piemontisierung« voran. Den Sizilianern war auch eine Neuverteilung des Landes versprochen worden, aber auch hier machte Turin einen Rückzieher. Wie das Gemeindeland hätten die einstigen Kirchengüter für eine Agrarreform zugunsten der Armen genutzt werden können. Aber schließlich wurde das Land billig an die prototypischen Mafiosi aus der Mittelschicht verkauft, und die Bauern gingen leer aus. Man hatte zwar den Sizilianern erklärt, sie würden durch die Annexion gewinnen, aber vielen von ihnen fiel es wohl schwer, die Vorteile zu erkennen. Wie in Neapel verloren die Armen infolge des Freihandels oft ihren Arbeitsplatz, sie wurden zu einer Armee eingezogen, die sie als ihren Feind betrachteten, und man verlangte ihnen Steuern ab, die sich offenbar speziell gegen sie richteten. Warum sonst wurden ihre Tiere (Esel und Maultiere) mit hohen Steuern belegt, während das Vieh der Landbesitzer geringer belastet wurde?
Sizilien mit Liberalismus zu beglücken hielten Cavour und seine Kollegen für eine gute Idee. Sie waren zuversichtlich, dass von der Kombination von Freihandel, parlamentarischer Regierungsform und antiklerikalen Gesetzen alle profitieren würden, und verstanden nicht, warum die Bevölkerung so wenig Begeisterung zeigte. Im Jahr 1875 bereisten Sidney Sonnino und Leopoldo Franchetti, zwei scharfsinnige junge Toskaner, Sizilien und erklärten anschließend, warum es so gekommen war. Die italienischen Institutionen auf der Insel, so berichteten sie, »beruhen auf einem rein formalen Liberalismus undgeben der Klasse der Unterdrücker die rechtlichen Mittel an die Hand, um weiterzumachen wie bisher«. Die Klasse der Unterdrücker mochte sich gewandelt haben, als nüchterne Geschäftsleute eine untergehende Aristokratie ersetzten, aber die Unterdrückung blieb. Wie der sizilianische Historiker Rosario Romeo darlegte, machte sich die neue herrschende Klasse die schlimmsten Eigenschaften der alten zu eigen. *215
Giuseppe Tomasi di Lampedusa, ein verarmter sizilianischer Fürst, beschloss 1955 im Alter von 58 Jahren, dem Müßiggang abzuschwören und Schriftsteller zu werden. In den folgenden zweieinhalb Jahren bis zu seinem Tod durch Lungenkrebs schrieb er unentwegt. Zu seinen Werken zählen zwei Kurzgeschichten, seine Kindheitserinnerungen und der große Roman Der Leopard (in der Neuübersetzung Der Gattopardo ). Der italienische Titel lautet Il Gattopardo , wörtlich Pardelkatze oder Ozelot, obwohl dem Autor ein Leopard vorschwebte; im Französischen heißt der Roman Le Guépard (Gepard), im Holländischen De Tijger Kat (ein Margay oder Bergozelot). Die Handlung spielt in den Jahren des Risorgimento, das Thema ist die Dekadenz der Aristokratie. In Palermo herrschte damals eine optimistische Atmosphäre des Liberalismus. Eine Figur in dem Roman behauptet, nach der Einigung »werden wir in Freiheit, in Sicherheit leben, werden niedrigere Steuern bezahlen, werden Vorteile haben, werden Handel treiben können. Es wird uns allen besser gehen, bloß die Pfaffen werden das Nachsehen haben.« *216 Aber der Verfasser wusste, dass nur sehr wenige Dinge besser geworden waren und wenige Menschen profitiert hatten, abgesehen von den Opportunisten, den Männern mit ihrem »krankhaften Geiz und ihrer Gier«, die durch die Verstaatlichung und den Verkauf von Kirchengütern ein Vermögen gemacht hatten. Fürst Fabrizio, der Protagonist – Lampedusa porträtiert hier seinen Urgroßvater –, lässt sich von der Einigung und dem Einzug des Liberalismus nicht blenden. Er weiß, dass sich nicht viel ändern wird. Das sizilianische Risorgimento bedeutete nicht viel mehr als einen Dynastiewechsel (»Turiner statt neapolitanischer Dialekt«) und den Austausch einer Klasse durch eine andere. Der Rest war Tünche, die oberflächliche Anwendung des Liberalismus auf eine harte und brutale
Weitere Kostenlose Bücher