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Auf der Suche nach Italien: Eine Geschichte der Menschen, Städte und Regionen von der Antike bis zur Gegenwart (German Edition)

Auf der Suche nach Italien: Eine Geschichte der Menschen, Städte und Regionen von der Antike bis zur Gegenwart (German Edition)

Titel: Auf der Suche nach Italien: Eine Geschichte der Menschen, Städte und Regionen von der Antike bis zur Gegenwart (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Gilmour
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mittelalterlichen Stadtzentren an den Stadträndern bauen dürfen, was und wie sie wollen. Fruchtbare Ebenen, malerische Wälder und Alpentäler – kaum ein Landschaftstyp blieb von der Industrialisierung und der Bauspekulation verschont. Vorschriften zur Bebauung und zur Bevölkerungsdichte wurden weitgehend ignoriert, besonders in Süditalien. Einige Regionen schützten ihre Landschaft besser als andere. Die Toskana und Sizilien sind zwei Extreme. Wer die Ebene von Palermo, die Conca d’Oro, im Jahr 1950 kannte, hätte sie 1970 nicht wiedererkannt. Die Zitronenhaine wurden zubetoniert, und durch die zügellose Bauspekulation bereicherten sich die Mafia und die Stadtverwaltung, deren Personal oft identisch war. In den Jahren des Wirtschaftsbooms wurde die italienische Küste so irreversibel verschandelt wie die spanische Mittelmeerküste und die Strände der Balearen. Um modern und industrialisiert zu erscheinen, baute Italien weit mehr Erdölraffinerien, als es brauchte. An so ungeeigneten Orten wie der Ostküste Siziliens oder der Lagune von Venedig wurden petrochemische Anlagen und andere Fabriken aus dem Boden gestampft. Fast jeder sandige Küstenstreifen auf der Halbinsel wurde für die Bauentwicklung erschlossen, und einige wenige Küstenabschnitte – die Amalfiküste und die ligurischen Cinque Terre – sind nur deshalb verschont geblieben, weil sie felsig und schwer zugänglich sind.
    Eine weitere Folge des Wirtschaftswunders, die alle Industriestaaten erlebten, war eine massive Abwanderung aus den ländlichen Regionen. Die Produktivität stieg, aber die Anbaufläche schrumpfte. Mit den neuen landwirtschaftlichen Maschinen wurden nicht mehr so viele Arbeitskräfte benötigt. 1950 war fast die Hälfte der Bevölkerung in der Agrarwirtschaft tätig, 50 Jahre später verdiente sich nur einer von 15 Italienern seinen Lebensunterhalt in der Landwirtschaft. Millionen junge Männer, hauptsächlich aus Süditalien, verließen in den fünfziger Jahren ihre Heimat, stiegen in Palermo und den Städten Apuliens in den Zug oder nahmen die Fähre von Sardinien. Bauernsöhne nahmen Abschied von ihrer Familie, schnürten ihr Bündel mit ihren wenigen Habseligkeiten und brachen auf nach Turin oder in eine andere Stadt im wenig gastfreundlichen Norden des Landes, um in einer Fabrik zu arbeiten und in einer Barackensiedlung oder einem Betonblock an der Peripherie einer beängstigend fremden Stadt zu leben. Im Zuge der Abwanderung blieben in vielen Dörfern bald nur noch Frauen und alte Leute übrig. Die meisten Bauern und Landarbeiter, die man Anfang der siebziger Jahre dort noch antraf, waren vor dem Ersten Weltkrieg geboren.
    Die Italiener, die im Süden blieben, genossen trotzdem bald mehr Wohlstand, so wie die Bewohner des Dorfes, in dem Carlo Levi in der Verbannung gelebt hatte – allerdings nicht durch eigene Anstrengung, sondern durch staatliche Zuwendungen und Geldüberweisungen ihrer ausgewanderten Angehörigen. Das italienische Wirtschaftswunder verringerte keineswegs das Nord-Süd-Gefälle. 1997 war das Pro-Kopf-Einkommen in der Emilia Romagna immer noch mehr als doppelt so hoch wie in Kampanien, Kalabrien, der Basilicata und Sizilien. Doch ohne staatliche Finanzspritzen wäre vermutlich die Kluft noch sehr viel größer gewesen. Die Christdemokraten setzten anfangs ein paar Landreformen um. Rund 120 000 Bauernfamilien bekamen Land zugeteilt, das die Großgrundbesitzer durch Enteignung verloren. Wichtiger jedoch war die von De Gasperi gegründete Cassa per il Mezzogiorno (»Kasse für den Süden«), mit der in den ersten Jahren Infrastrukturmaßnahmen ergriffen und Straßen, Wasserleitungen und Bewässerungssysteme gebaut wurden. In den sechziger Jahren begann der Staat dieIndustrie zu fördern, allerdings mit geringem Erfolg. Gewaltige Summen wurden in den Bau neuer Fabriken investiert – an Orten, wo es keine Facharbeiter und kein geeignetes Verkehrsnetz gab. Bald zeigte sich, dass die Christdemokraten die »Kasse für den Süden« für Zwecke ganz nach dem Geschmack früherer demokratischer Regierungen seit Ministerpräsident Depretis einsetzten: für Bestechung. Sie verschafften ihrer Klientel Arbeitsplätze und lukrative Bauaufträge und erhielten dafür Wählerstimmen und politische Macht.
    Im kalabrischen Gioia Tauro hat man eine herrliche, fruchtbare Landschaft mit Olivenbäumen und Orangenhainen plattgewalzt, um einem riesigen Industriekomplex Platz zu machen. Das Stahlwerk musste stillgelegt werden,

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