Auf der Suche nach Tony McKay
voran. Heiko hilft Rosa, sich durch das Ruhrgebiet zu fransen. Ich nicke ein. Als ich wieder aufwache, ist es nahezu taghell im Wagen. Belgiens Autobahnen strahlen einsam und ungesund vor sich hin. Ob die Autobahnen hier bedeuten, dass der ökologische Fußabdruck des durchschnittlichen Belgiers um ein vielfaches höher ist, als der eines Deutschen zum Beispiel? Wird die Autobahnbeleuchtung auf die belgische Bevölkerung umgelegt, oder geht das komplett auf das Konto der Mitarbeiter des Umweltministeriums?
Rosa fährt an eine verlassene Raststätte, um mit Heiko zu tauschen.
Dieses widerlich orange Licht verursacht geradezu Übelkeit. Ich mache mir eine mentale Notiz, die Laternen an den belgischen Autobahnen auf meine Liste zu setzten. Ich führe diese Liste seit ungefähr zehn Jahren. Sie ist ein wunderbar therapeutisches Mittel, mit Dingen umzugehen, die man sich eigentlich zum Kuckuck wünscht. Angefangen hat das Ganze mit Dr. Doro Schulze, ihres Zeichens Deutschlehrerin an unserer Schule. Die Dame hatte eine Art Bücher zu sezieren, die einem jeden Spaß an Literatur genommen hat. Gepunktet haben bei der all die Streber, die sie in den Klausuren wörtlich zitieren konnten. Und einige männliche sportliche Mitschüler, für die Dr.Schulze einiges übrig hatte und die sie, während Klausuren geschrieben wurden, immer notgeil angrinste. Wir anderen hatten nicht viel zu melden. Rosa hatte damals auch eine Liste – wer bei Ausbruch der Revolution als erster an die Wand gestellt wird. Ich weiß aus direkter Quelle, dass Doro Schulze bei ihr ganz obenauf stand. Mir war das etwas zu radikal. Auch wenn die Schulze einen zweifelhaften Geschmack an Büchern hatte und gerne mit jungen Männern flirtete, so musste sie ja nun nicht gleich brutal ausradiert werden. Meine Liste drehte sich mehr um Dinge, die ich abschaffen würde, so ich irgendwann einmal die Macht dazu hätte. Ich habe Doro auch darauf gesetzt, allerdings mit dem Zusatz ‘versetzen nach Alaska’ – wo sie wohl weniger Schaden anrichten konnte als bei uns.
Meine Liste ist seitdem gewachsen. Einiges habe ich auch wieder raus gestrichen, da es mich mittlerweile nicht mehr so sehr stört wie früher (Mercedesfahrer mit Hut, zum Beispiel, oder die Vokuhila-Frisur), vieles andere ist allerdings hinzu gekommen. Bei der letzten Zählung befanden sich 216 aktuelle Eintragungen auf meiner Liste. Mit den belgischen Autobahnen jetzt also 217.
Nachdem wir es tatsächlich geschafft haben, uns im verstrahlten Belgien in der Nähe von Brüssel zu verfahren, erreichen wir erst gegen Vormittag den Fähranleger in Dünkirchen. Rosa und Britta auf der Rückbank wachen nur kurz auf und schlafen dann weiter. Ich gehe mit Heiko los, um zu checken, wann die nächste Fähre ablegt. Wir wühlen uns durch Schlangen von Lkws hindurch, die ebenfalls auf dem Weg nach England sind.
Der Mensch in dem Büro guckt etwas erstaunt, als wir für die Überfahrt bar bezahlen, macht aber keine Probleme.
Wir stellen uns einen Moment an die Kaimauer. Es tut gut, etwas frischen Wind zu spüren, nachdem wir die letzten zwölf Stunden oder so in dem muffigen Auto gesessen haben. Das Wasser sieht grau aus, ebenso der Himmel. Wenig einladend. Ich muss mich daran erinnern, dass dies nur eine Zwischenstation ist, nicht das Ziel, so wie man manchmal erst abwaschen muss, bevor man sich gemütlich zu einer Tasse Kaffee und einem Stück Kuchen hinsetzen kann, weil alles Geschirr schmutzig ist. Gut, das mag ein etwas zu trivialer Vergleich sein. Versuchen wir es noch einmal. Oder so wie man während des Studiums oder einer Ausbildung eine Reihe von langweiligen und scheinbar sinnlosen Sachen machen und studieren muss, die einzig dem Zweck dienen, dem Studienabschluss ein wenig näher zu kommen. Vielleicht ist es ja auch ein bisschen so wie der Tod, wie das Sterben: ein unausweichlicher Prozess auf dem Weg zu einer besseren Welt (wenn man den Berichten klinisch toter Menschen Glauben schenken will oder aber sich einer der monotheistischen Religionen verschrieben hat). Unsere Zwischenstation in England ist also quasi eine Art von Selbstmord auf dem Weg ins Paradies. Mein Herz beginnt zu rasen und mir bricht der Schweiß aus, typische Panikattacke. Ich drehe England den Rücken zu und schüttele meinen Kopf, um diesen morbiden Gedanken wieder los zu werden. Ohne Zweifel das Produkt von Übermüdung, hinkt vorne und hinten der Vergleich, beschreibt in keinster Weise, die Situation in der wir uns
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