Auf der Suche nach Tony McKay
Erwiderungen, aber was auch immer an populär-psychologischen Selbsthilfebüchern geschrieben worden ist, nichts davon enthält wohl Passendes für unsere augenblickliche Situation.
Ich erinnere mich diverser Küchentischgespräche mit einem Psychologie-studierenden WG-Mitbewohner aus meiner Unizeit. Wenn jemand ein Problem hatte, bewegten sich dessen Sprüche üblicherweise auf dem Niveau von ‘Du musst dich selber annehmen...’ und wenn es wirklich schlimm war, dann ‘Alles hat ein Ende, nur die Wurst hat zwei.’ [10] Dieser Spruch amüsierte ihn selber derart, dass er einmal, als er ihn mal wieder bei unpassender Gelegenheit zum Besten gegeben hat, im alkoholisierten Zustand vom Stuhl fiel und sich dabei eine Kante seines oberen Vorderzahns ausschlug. Dieser Look gefiel ihm allerdings, vermutlich weil er so verwegener aussah, als Diplompsycholgen das gemeinhin zu tun pflegen, so dass er über Jahre damit herumgelaufen ist und seinen Zahnarzt daran gehindert hat, den Schaden zu reparieren.
Der Mensch lebt heute in Rosenheim am Alpenrand und hat eine gut gehende, post-modern eingerichtete Praxis mit Goldfisch auf dem Schreibtisch, in der er Oberstudienräte und –innen mit seiner oberflächlichen Psychologie davon überzeugt, dass ihre Arbeitsunlust in Wirklichkeit ein Burn-out-Syndrom infolge von jahrelanger Überarbeitung ist. Er überweist sie dann zur Krankschreibung an einen geneigten Psychiater und Mit-Inhaber einer Kur-Klinik, in der diese armen gestressten Menschen sich einer mehrwöchigen Kur mit intensiver psychotherapeutischer Begleitung und holistischem Wellness-Programm unterziehen, bevor sie dann in den vorzeitigen Ruhestand entlassen werden. Das hat ihm nicht nur den Erwerb eines Eigenheimes (freistehend!), sondern auch eines Feriendomizils in Südspanien ermöglicht.
Bei alledem hat der seinen Tätigkeitsort klug gewählt. Denn die Distribution depressiver Erkrankungen in Deutschland weist ein erstaunliches Nord-Süd-Gefälle auf: der reiche Süden ist wesentlich unglücklicher, als wir im Norden. Allerdings geraten die Mediziner und Psychologen dabei leicht in ein diagnostisches Dilemma: im hohen Norden reden wir nicht soviel, ja sind von Natur aus schweigsamer. Neben einem Süddeutschen wirken wir unweigerlich depressiv. Ich habe mich schon oft gefragt, was wohl passierte, wenn ein Psychiater aus dem Süden zu uns in den Norden zöge. Entweder würde der in Kürze den Job wechseln, oder aber die Landesregierung in Kiel anbetteln, die Gesamtbevölkerung durch Zugabe von Lithium und Prozac in das Trinkwasser pauschal zu therapieren und derart an den Rest der deutschen Bevölkerung anzugleichen.
Rosa kommt zurück. Sie plonkt sich auf den Rücksitz und legt den Kopf in den Nacken.
‘Und?’ fragt Heiko.
‘Erinnert ihr euch als damals kurz vor dem Abi für eine Woche die Schule geschlossen wurde?’
Natürlich erinnern wir uns. Die Sensation schlechthin. Denn unser Oberstudiendirektor Lause, wenn auch nicht zeitlich-chronologisch, so doch weltanschaulich-ideologisch, direkter Nachfolger der Betonköpfe aus der Zeit, als die Institution an der wir sechs Stunden täglich verwahrt wurden, noch ein Realgymnasium war und Adolf-Hitler-Schule hieß, schloss die Schule nur mit dem allergrößten Unwillen, ja selbst zu Zeiten höherer Gewalt, was im Norden synonym mit Schneekatastrophen und übergefrorenen Straßen ist, versuchte der die fortlaufende Öffnung der Schule durchzusetzen. Dies führte dann üblicherweise dazu, dass einer der Väter, die sich selber und ihren Nachwuchs etwas wichtiger nahmen, im Kultusministerium in Kiel anrief und sich an höchster Stelle über den Lause beschwerte. Um so schockierender dann, als die Schule damals wirklich geschlossen wurde, und dies sogar für eine ganze Woche. Es war, wie so oft im Leben, eine Verkettung unglücklicher, oder glücklicher, wenn man nicht gerade der arbeitswütige Lause war, Umstände. Aus einem Urlaub im tropischen Indonesien hatte der Erdkundelehrer Hennigs einen Parasiten mitgebracht. Infolge mangelhafter hygienischer Praktiken im Lehrerzimmer wurde dieser Parasit an das halbe Kollegium weitergegeben, welches sich en bloc krankmeldete. Selbst dies hätte nie dazu ausgereicht, die Schule zu schließen, der Lause hätte Klassen einfach zusammengelegt und den noch gesunden Lehrkörper mit Klassengrößen von 60 und mehr konfrontiert. Doch taten dann eine eingestürzte Decke im zweiten Stock des Altbaus und ein Rohrbruch in dem
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