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Auf die feine Art

Auf die feine Art

Titel: Auf die feine Art Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leena Lehtolainen
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verheimlichen?
    Erneut nahm ich Sannas Magisterarbeit zur Hand. Nachdem ich einige Seiten gelesen hatte, holte ich das englische Wörterbuch aus Anttis Arbeitszimmer. Sannas Untersuchung war so gescheit und mitreißend geschrieben, dass ich mich allen Ernstes für das Thema zu interessieren begann. Wann hatte sie den Text wohl zu Papier gebracht?
    Ungefähr in der Mitte ihrer Arbeit hatte Sanna eins der bekanntesten Gedichte von Sylvia Plath, »Lady Lazarus«, eingehend analysiert. Dieses Gedicht hatte auf Sannas Schreibtisch gelegen, als sie starb, und man hatte daraus geschlossen, sie hätte Selbstmord begangen.
    Ihre eigene Analyse warf jedoch ein völlig anderes Licht auf den Text.
    »Lady Lazarus ist aus den unterschiedlichsten Perspektiven analysiert worden, unter anderem hat man es als Darstellung des Holocaust oder der Unterdrückung der Frau interpretiert. Ferner wurde nach Parallelen zu Sylvia Plath’ Leben, insbesondere zu ihrer Vaterbeziehung, gesucht. Alle diese Interpretationen lassen sich begründen. Meiner Ansicht nach übersehen sie jedoch das wichtigste Thema des Gedichts, die Beziehung zwischen Selbstzerstörung und Körperlichkeit.
    Schon der Titel, ›Lady Lazarus‹, macht deutlich, dass es um Auferstehung geht. Eine Frau entsteigt dem Grab, öffnet ihr Leichentuch, zerfällt zu Asche und wird neu geboren. Tod und Verwesung haften der Metaphorik des Gedichts an, die dennoch deutlich auf das Leben verweist.
    Bei der Lektüre des Gedichts stellt sich die Frage, wer Lady Lazarus getötet hat. Die im Gedicht beschriebenen Tode erinnern an den Roman ›Die Glasglocke‹ und an die Biographie der Autorin. Doch wer ist oder wer sind Herr Doktor, Herr Enemy, Herr God, Herr Lucifer, an die sich das lyrische Ich wendet? In vielen Gedichten, die sich mit ihrer Vaterbeziehung auseinander setzen, verwendet Sylvia Plath deutschsprachige Anreden; in »Daddy« vergleicht sie ihren Vater mit den Nazis und setzt schließlich den betrügerischen Vater mit dem heimtückischen Ehemann gleich. Man darf daher annehmen, dass sich Lady Lazarus an einen geliebten, aber betrügerischen Mann wendet, den sie letztlich besiegt.«
    Bei diesem Absatz hatte Sanna in undeutlicher Handschrift etwas an den Rand gekritzelt. Ich starrte auf die Buchstaben, machtlos gegen die Assoziationen, die die wenigen Worte auslösten. »Wie ich und E.« las ich.
    Herr Enemy? Eki? Der Tod, den der alte Herr Lindgren an der Mole gesehen hatte … Nein, zum Teufel! Und doch, in diesem Licht erschien alles so logisch – Ekis Unwilligkeit, Kimmo zu verteidigen, die Versuche, mich einzuschüchtern. Hatte Sanna nicht von ihrem Vaterkomplex gesprochen? Vielleicht hatte sie Eki als Beschützer empfunden, als allmächtigen Juristen, der ihr immer wieder aus der Klemme half.
    »Die dritte Auferstehung stellt für Lady Lazarus fraglos einen Wendepunkt dar. Aus dem Tod ins Leben zurückgekehrt, beherrscht sie die Situation. Das Gedicht bringt trotziges Selbstvertrauen zum Ausdruck, den Mut, das Alte hinter sich zu lassen und dem Feind die Stirn zu bieten. Der Körper der Lady Lazarus ist eine Verlockung für diesen Feind, der aufgrund der wiederholten Anrede ›Herr‹ eindeutig als Mann zu identifizieren ist. Das Wort ›men‹ in der letzten Zeile des Gedichts – And I eat men like air – bedeutet in diesem Zusammenhang nicht Menschen im Allgemeinen, sondern ausdrücklich Männer.«
    Ich las das Gedicht noch einmal und stimmte Sannas Interpretation zu. Von Todessehnsucht konnte keine Rede sein. Sanna hatte dieses Gedicht an ihrem dreißigsten Geburtstag gelesen wie einen Auferstehungspsalm. Doch es war ihr nicht gelungen, ihren Herrn Feind zu überwinden; er hatte sie getötet.
    Ich konnte nicht mehr stillsitzen und sprang auf. Dabei warf ich den Rucksack um. Sannas Totenkopf rollte heraus, Einstein schnüffelte neugierig daran. Mir war übel. Wie hatte Armi von Ekis Rolle erfahren? Hatte Make nicht gewusst, dass Sanna noch einen zweiten Liebhaber hatte? Eki, dieser Heuchler, hatte Make sogar vor einer Anklage wegen fahrlässiger Tötung bewahrt. Womöglich hatte Eki Sanna nicht vorsätzlich ermordet, sondern sie in einem Wutanfall ins Wasser gestoßen. Aber selbst wenn man ihm nur fahrlässige Tötung vorgeworfen hätte, wäre es mit seiner Anwaltskarriere aus gewesen.
    Zum Glück war Freitag, die nächsten zwei Tage brauchte ich nicht in die Kanzlei. Welch ein Pech für Eki, dass er ausgerechnet mich eingestellt hatte! Aber irgendwann hätte ich

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