Auf doppelter Spur
nenne sie Miss Nagelstock, weil sie so flach ist und ihren Bruder immer schikaniert.«
»Erzähl bitte weiter«, ermunterte ich sie voller Interesse.
»Und dann geschah alles mögliche. Der Mann kam wieder aus dem Haus – waren Sie es bestimmt nicht?«
»Ich habe ein höchst durchschnittliches Aussehen«, sagte ich bescheiden, »viele sehen so aus.«
»Das stimmt wohl«, meinte Geraldine nicht gerade schmeichelhaft. »Jedenfalls ging er zur Telefonzelle telefonieren, Polizei kam… und sie brachten die Leiche in einer Art Ambulanz weg. Inzwischen sahen natürlich viele Leute zu, auch Harry, und er erzählte mir später davon. Er sagte nur, ein Mann wäre ermordet worden, den Namen wüsste niemand.«
Ich flehte inständig, dass Ingrid sich nicht gerade diesen Augenblick aussuchen würde, um mit einem Sirupkuchen hereinzukommen.
»Erzähl mir doch, was vorher war. Hast du diesen Mann, der ermordet wurde, ins Haus gehen sehen?«
»Nein. Er muss wohl die ganze Zeit dort gewesen sein. Aber er wohnt nicht da, niemand außer Miss Pebmarsh wohnt dort. Ihren richtigen Namen weiß ich aus den Zeitungen. Und das schreiende Mädchen hieß Sheila Webb. Harry sagte mir, dass der Ermordete Curry hieß – komischer Name, wie das Zeug, das man auf den Reis streut. Und dann, wissen Sie, passierte noch ein Mord. Nicht am selben Tag – später – in der Telefonzelle weiter unten. Ich kann sie gerade sehen, wenn ich den Kopf aus dem Fenster stecke und den Hals drehe. Natürlich habe ich den Mord nicht richtig gesehen – wenn ich gewusst hätte, was passieren würde, hätte ich natürlich rausgeschaut. Damals standen viele Leute nur so auf der Straße rum und schauten auf das Haus. Ziemlich blöd, nicht?«
Ingrid erschien, verkündete, dass sie bald wiederkommen würde, und verschwand. Geraldine bemerkte:
»Sie regt sich beim Kochen immer so auf. Und ich bekomme mein Essen immer erst dann, wenn Ingrid damit fertig ist, manchmal um 12, manchmal um 2 Uhr.«
»Wann hast du an dem Mord-Tag gegessen?«
»Das war gerade ein 12-Uhr-Tag. An dem Tag hat Ingrid nämlich frei, geht ins Kino oder zum Friseur. Und dann leistet mir Mrs Perry Gesellschaft. Mag sie nicht, sie streichelt mich immer… man kann sich mit ihr nicht richtig unterhalten. Aber sie bringt mir immer Bonbons und so.«
»Wie alt bist du, Geraldine?«
»Zehn. Zehn Jahre, drei Monate.«
»Du kannst dich offenbar sehr gut und gescheit unterhalten.«
»Weil ich mich viel mit Vati unterhalten muss… ja, also an dem Tag hatten wir früh gegessen, und dann habe ich eine Zeit lang aus dem Fenster gesehen… Nein, Mr Curry habe ich nicht kommen sehen. Ziemlich merkwürdig, jawohl.«
»Vielleicht ist er sehr früh gekommen?«
»Aber nicht zur Vordertür. Dann hätte ich ihn bestimmt gesehen. Von hinten durch die andern Gärten kann er auch nicht gekommen sein, das mögen die Leute nicht. Ich würde gern wissen, wie er aussah«, sagte Geraldine.
»Nun, er war ziemlich alt, um die Sechzig. Er war gut rasiert und hatte einen dunkelgrauen Anzug an.«
Geraldine schüttelte den Kopf. »Klingt schrecklich langweilig«, sagte sie missbilligend.
»Auf jeden Fall ist es wohl sehr schwierig für dich, dich an alles zu erinnern, was an einem Tag geschieht, wenn du hier liegst und immer hinausschaust.«
»Das ist nicht schwierig«, widersprach sie. »Ich kann Ihnen alles vom Vormittag erzählen. Ich weiß, wann Mrs Krabbe kam und ging – ja, die Putzfrau; sie bewegt sich nämlich wie eine Krabbe… Und gegen 10 Uhr ging Miss Pebmarsh. Mrs Krabbe geht immer gegen zwölf weg. Manchmal hat sie dann ein Päckchen, das sie beim Kommen nicht hatte. Butter und Käse, nehme ich an, weil es ja Miss Pebmarsh nicht sehen kann. An dem Tag habe ich besonders gut aufgepasst. Ingrid hat nämlich nicht mit mir gesprochen, sie war böse. Sie wollte wissen, was ›Auf Wiedersehen‹ auf Englisch heißt, und ich sagte ihr den Ausdruck für ›Mach, dass du wegkommst‹. Das hat sie dann zur Nachbarin gesagt: Hui, war die aber wütend! Aber deshalb weiß ich, dass Mr Curry nicht durch die Vordertür kam. Vielleicht ist er nachts irgendwie hineingekommen und hat sich auf dem Dachboden versteckt. Halten Sie das für möglich?«
»Möglich wäre alles, aber nicht wahrscheinlich. Und sonst kam niemand zum Haus? Gar niemand? Kein Auto, kein Händler – oder Besucher?«
»Der Gemüsewagen kommt montags und donnerstags, die Milch kommt morgens um halb neun. Blumenkohl und so kauft Miss Pebmarsh
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