Auf Dunklen Schwingen Drachen1
gar nicht erst hätte berühren dürfen.
Zu spät. Er hatte mich gesehen.
»Was machst du da?«, schrie der Akolyt mich an. »Leg das zurück. Spiel nicht damit herum. Weißt du, wie alt das ist?«
Er ließ die Kiste dicht neben meinem Fuß fallen.
»Dummer Rishi-Bastard!«, knurrte er leise, während er das alte Papier betrachtete. Er hielt seine Hände darüber, als wollte er es vor meiner Gegenwart beschützen. »Ich habe dir gesagt, du sollst die Schriftrollen vom Boden aufheben. Mehr nicht. Heb sie einfach auf.«
Meine Wangen brannten. »Das habe ich ja gemacht.«
Er schnaubte, nahm eine andere Schriftrolle hoch, rollte sie fest zusammen und stopfte sie in ein Bambusrohr. »Ignoranten, alle miteinander. Vollkommen unfähig, einfache Befehle auszuführen …«
»Ihr habt das in die falsche Hülle getan«, sagte ich hitzig.
»Was?« Der Blick seiner Augen unter dem schwarzen Pony schien mich zu durchbohren.
Ich deutete auf das Bambusrohr in seiner Hand.
»Die Schriftrolle gehört da nicht hinein«, fuhr ich ihn an. »Aber was weiß ich schon, heho? Ich bin ja nur ein unwissender Rishi-Bastard!«
Langsam zog er die Rolle wieder aus dem Bambusrohr, rollte sie auf, las den verzierten Titel und blickte dann auf den Titel auf der Bambusrolle.
Sie passten nicht zusammen, diese beiden Titel.
Ein Muskel in seiner Wange mahlte.
In dem Moment wurde mir klar, in was für Schwierigkeiten ich mich gebracht hatte. Der normale Rishi war unbewandert in der Kunst des Lesens und Schreibens.
»Du kannst lesen«, sagte er ruhig, ohne mich anzusehen.
»Nur ein bisschen.« Ich bemühte mich, gelassen zu antworten.
»Wieso?«
Ich dachte an Ohd-sli. »Eine Bayen hat es mich gelehrt, in dem Haus, in dem ich diente. Als Gegenleistung für gewisse Gefallen.«
Er sah hoch und musterte mich prüfend.
Wir waren nur Zentimeter voneinander entfernt. Ganz gewiss konnte er erkennen, dass ich eine Frau war, selbst in dem spärlichen Licht. Mein Atem kam zu schnell, zu flach.
»Warum bist du dann hier?«
»Ihr Gebieter hat von uns erfahren«, erwiderte ich heiser. Mein Herz schlug schmerzhaft gegen meine Rippen.
Er nickte und blickte wieder auf die Schriftrolle in seinen Händen. Dann streckte er sie mir brüsk entgegen. »Lies.«
Ich schluckte, hatte kaum genug Speichel im Mund, um seinem Befehl gehorchen zu können.
»Acht und acht und acht Tage wanderten sie darin umher, durchsuchten die Drachenhöhle«, las ich. Meine heisere, zitternde Stimme half mir, zu verbergen, wie flüssig ich las. »Acht und acht und acht Mal täglich blickten sie zu den Sternen, suchten eine nistende Brut in der knorrigen Krone des Dschungels.«
Ich konnte nicht weiterlesen, weil das Papier in meinen Händen zu sehr zitterte.
Nach kurzem Schweigen nickte der Akolyt.
»Du könntest in den Tempel eintreten«, sagte er und sah mich an. »Besser, als ein Kigos Makmaki zu werden. Falls du in diese Zone gekommen bist, um den Toten zu dienen.«
»Das stimmt«, gab ich heiser zurück. »Aber ich … ich mag Frauen zu sehr, als dass ich in den Tempel eintreten könnte.«
»Zu schade.«
Dann wandte er sich um und deutete auf die Schriftrollen, die noch auf dem Boden lagen. Wirbelte brüsk zu mir herum. »Sammle die zu Ende auf, und hilf mir dann, den Rest der Kisten herunterzutragen. Und viel Glück für dich, als Makmaki.«
Er duckte sich aus der niedrigen Tür der Kammer und verschwand im dunklen Tempel.
Nach einer unruhigen Nacht, die wir aneinandergekauert am Fuß des großen Steinsockels eines Gawabes verbrachten, machten wir uns auf die Suche nach dem Bestattungsturm, der von den Makmaki-Brüdern verwaltet wurde, bei denen Mutter und ich vor all den Jahren Unterschlupf gefunden hatten.
Wir fragten die orange gekleideten Gestalten, die in der Zone herumliefen, Wasserkrüge auf Kopf und Hüften trugen, Holz für die Kochfeuer auf dem Rücken und auf Ästen aufspießte Jambas, die sie im Dschungel gefangen hatten. Jeder aber schickte uns in eine andere Richtung als der, den wir zuvor befragt hatten. Kiz-dan schlurfte wortlos hinter mir her. Ihr zerfurchtes Gesicht und das Schreien des Babys waren Vorwurf genug.
Erst am späten Nachmittag fiel mir auf, dass der große Aasvogel vom Tag zuvor uns immer noch folgte. Er flatterte von einem Turm zum nächsten und ließ sich auf den vierflächigen Pagodendächern nieder.
Beim Anblick dieses Vogels sträubten sich mir die Nackenhaare. Nicht nur sein Verhalten war merkwürdig, sondern er wies
Weitere Kostenlose Bücher