Auf einem Maskenball verführt
Rücken zu Alyssa, die Hände in den Hosentaschen, blieb er stehen. Hinter sich hörte er das Zuschlagen der anderen Tür und Schritte auf der harten Erde.
Ungeduldig wartete er, bis Alyssa bei ihm war. „Du hast völlig recht“, sagte sie mit sanfter Stimme, die nur noch dazu beitrug, dass seine Anspannung wuchs. „Ich habe wirklich zu viel und zu hart gearbeitet.“
„Aber warum? Was hat dich getrieben?“
„Schwer zu erklären.“
Er wandte sich ihr zu und sah sie fragend an. „Bitte versuche es.“
Einen Moment lang fürchtete er, sie würde ihm ausweichen. Doch dann begann sie: „Ich war ein Einzelkind …“ Ihre Stimme verlor sich.
Ein Einzelkind? Was wollte sie damit sagen? Als sie zögerte, wurde ihm klar, dass es ein schwieriges Thema für sie war.
Schließlich sprach sie weiter. „Meine Erziehung genügte höchsten Ansprüchen: Klavier, Theater, Kunst, Tennis.“
Joshua überlegte. Ließ sich so auch ihr beruflicher Ehrgeiz erklären, ihr unbedingter Wille zum Erfolg?
„Für meine Eltern war ich etwas Besonderes. Ihr Wunschkind. Daher waren die Erwartungen an mich hoch, und vielleicht habe ich sie ja zu meinen eigenen gemacht. Lange Zeit war mir Erfolg das Wichtigste, wenn ich auch einen anderen Beruf ergriffen habe, als meine Eltern wollten. Dad war Richter, und wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte ich Anwältin werden sollen. Um ihm zu beweisen, dass meine Wahl richtig war, habe ich mich als Journalistin sehr angestrengt.“
„Ja. Und schließlich bist du überaus erfolgreich geworden. Vielleicht bist du darin deinem Vater gar nicht so unähnlich.“
Sie lächelte. „Weißt du, es ist gar nicht so einfach, die Tochter eines Richters zu sein, vor allem nicht, wenn man jung ist. Auf jeden Fall hat er mir klare Vorstellungen von Recht und Unrecht, von Gut und Böse vermittelt. Als ich älter wurde, habe ich gemerkt, worum es ihm ging. Die Welt braucht Menschen, die für ihre Werte einstehen. Für Wahrheit und Ehrlichkeit zum Beispiel.“
Joshua verzichtete auf den Hinweis, dass es nicht gerade von Anstand und Ehrlichkeit zeugte, eine bestehende Verlobung zu gefährden.
„Zum Glück erlebte meine Mutter noch, wie ich als Journalistin meine ersten Preise und Awards gewann und damit eine respektable Person des öffentlichen Lebens wurde. Aber das nahm viel Zeit in Anspruch, die ich nicht mit ihr verbringen konnte. Ich habe nicht gewusst, dass sie krank war: Sie hatte Krebs.“
Mitfühlend sagte er: „Das war sicher schlimm für dich. Weißt du, ich habe mir nie Gedanken darüber gemacht, wie sich ein Einzelkind fühlt. Unter welchem Druck es stehen kann.“
Nachdenklich neigte er den Kopf zur Seite. „Ohne die Kappeleien zwischen Heath und Roland, ohne Megan mit ihrem Dickkopf kann ich mir meine Kindheit und Jugend gar nicht vorstellen. Auch heute noch teilen wir uns die Verantwortung für Saxon’s Folly.“
„Ein großes Glück“, lächelte sie wehmütig.
„Meinst du?“ Er lachte. „Manchmal könnte ich meine Geschwister umbringen.“ Als er ihren entsetzten Blick sah, fügte er hinzu: „Na ja, du weiß schon, wie ich das meine. In Wahrheit bedeuten sie mir alles.“
„Vielleicht war ich wirklich ziemlich ehrgeizig“, fuhr Alyssa nach einem Moment des Nachdenkens in ihrer Schilderung fort. „Aber vor drei Jahren änderte sich das schlagartig.“
„Als deine Mutter starb?“
Traurig sah sie ihn an. „Sie fehlt mir so. Ich habe mich so nach Geschwistern gesehnt … einem Bruder. Mehr als alles auf der Welt wollte ich eine Familie.“
Gut möglich, dachte Joshua, dass manche Menschen so auf den Tod einer nahestehenden Person reagieren. Er selbst hätte alles dafür gegeben, wenn sein Bruder noch am Leben wäre. Einfühlsam sagte er: „Dass du deine Mutter verloren hast, tut mir leid. Das ist für niemanden leicht.“
„Vater und ich haben um sie getrauert. Vor einem Jahr hat er wieder geheiratet. Wahrscheinlich war er einsam.“
Während Joshua das Farbenspiel aus leuchtenen Gold- und Orangetönen am Himmel beobachtete, wünschte er, ihre Geschichte hätte ihn nicht so tief berührt.
Eigentlich sollte er vernünftig genug sein, nicht ausgerechnet Alyssa Blake zu begehren.
„Weißt du, Joshua, ich habe mir nie überlegt, dass jeder noch so reizvolle Sonnenuntergang das Ende eines Tages bedeutet … dass die Zeit schneller vergeht und das Leben kürzer ist, als uns bewusst ist. Wahrscheinlich hast du recht mit deiner Vermutung, dass ich zu schnell gelebt
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