Auf einmal ist Hoffnung
Stellprobe an der Metropolitan Opera hinter sich gebracht und war im Studio erschienen, um dort weiterzutrainieren. Igor aber hatte ihr sofort angesehen, daß sie total erschöpft war, und sie auf die Seite genommen. »Laß uns zu Ted's gehen.«
»Ich muß trainieren, Igor«, hatte sie ihm heftig widersprochen. Jetzt also saßen sie hier bei Ted's an einem der kleinen Tische, vor jedem stand ein Glas Apfelsaft, und sie hatten sich in eine Diskussion über Jennifers zu großem Ehrgeiz verbissen.
»Hast du mir nicht noch vor zwei Tagen das genaue Gegenteil gepredigt? Jeden Hunger auf Erfolg abgesprochen? Mir vorgeworfen, daß mir das gnadenlose, kaltblütige Muß fehlt?« Sie sah ihm fest in die Augen und wiederholte mit Nachdruck. »Du hast vom gnadenlosen, kaltblütigen Muß gesprochen. Wörtlich!« Sie sah ihn distanziert an und ließ nichts an ihm gelten, weder seinen warmherzigen Blick noch seine ernsthafte Besorgnis um sie.
»Dieses Gespräch ist längst überholt«, stellte er hart fest, »jetzt geht es um deine Gesundheit.«
Sie hatten die Köpfe zusammengesteckt und die Stimmen gedämpft, denn sie wollten keine Mithörer haben.
»Ich bin gesund. Völlig. Du kannst dich darauf verlassen.« Es kam aufgebracht, als wollte sie sich selbst beruhigen.
»Du machst mir nichts vor, Jenny, ich weiß genau, wann ein Tänzer die Leistungsgrenze überschritten hat und kurztreten muß.« Er sagte es einfühlsam und dachte, wie schön sie doch war, selbst in ihrer Abgespanntheit. Das schmale Gesicht, die weichen Lippen, das streng frisierte lange brünette Haar, die dunklen, sprechenden Augen – sie war etwas Besonderes.
Sie stritten beinahe endlos über das Problem der Leistungsgrenze, dabei leidenschaftlich verhalten, und kamen zu keiner Einigung. Sie saßen mehr als eine Stunde beim selben Glas Saft, redeten sich die Köpfe heiß und verloren sowohl die Beziehung zu ihrer Umwelt als auch jegliches Zeitgefühl.
Als Igor spürte, daß er Jennifer mit seinen Argumenten nicht beeinflussen konnte, griff er zu einem Trick. »Es war genau der Tag, an dem dieser unselige Hitler in Polen einmarschiert ist. Wir waren mit dem Kirow-Ballett auf Europatournee und gastierten zwei Wochen lang an der Opéra in Paris. Ich sprach nicht perfekt, aber immerhin genug französisch, daß ich alles verstand. Ich habe die Nachricht der Rundfunkstationen über den Beginn von Hitlers Raubzug noch heute im Ohr. Aber es war nicht mein Problem. Mich interessierte nur, daß ich mich in den Westen absetzen konnte. Zu Balanchine.« Er machte eine Pause, als müsse er die Erinnerung erst wieder zurückholen, und fragte leidenschaftlich: »Bist du ihm jemals begegnet?«
»Nein. Aber ich weiß viel über ihn.« Es klang abweisend.
»Er war Russe«, fuhr er fort, »hieß Melitonowitsch Balanchivadze, stammte wie ich aus Petersburg und war einer der größten Choreographen der Ballettgeschichte. Kannst du dir vorstellen, wie ich innerlich brannte, weil ich zu ihm kommen konnte?«
Sie hörte ihm kaum zu und nickte.
»Hätte der Tag damals sechsunddreißig Stunden gehabt, ich hätte ihn bis zur letzten Minute mit Training ausgefüllt. ›Jeu de cartes‹ hieß das Ballett, das wir einstudierten. Die Kirow-Truppe war längst weg, ich war in Paris geblieben, hatte mich abgesetzt und trainierte wie besessen für Georges Balanchine. Bis einen Tag vor der Premiere. Da brach ich auf der Probenbühne zusammen.«
Wieder machte er eine Pause, als suche er die Erinnerung. In Wirklichkeit aber wollte er lediglich Jennifers Aufmerksamkeit verstärken.
»Was war die Folge?« fragte sie aggressiv, denn sie fühlte sich indirekt kritisiert.
»,Jeu de cartes' ging ohne mich in die Premiere. Ich lag in der Klinik. Kreislaufkollaps. Aber das war nicht der Grund, weshalb ich es dir erzählt habe. Entscheidend war etwas anderes. Balanchine hatte schon Tage vorher bemerkt, daß mit meiner Kondition etwas nicht stimmte, und mich gebeten, einen Arzt aufzusuchen. Hätte ich auf ihn gehört, wäre ich bei der Premiere dabeigewesen.«
»Warum?«
»Ich hatte einen Krankheitsherd in mir, der letzten Endes den Kollaps ausgelöst hatte. Ein winziges Geschwür im Hals. Ich hatte es bagatellisiert. Hätte ich es rechtzeitig behandeln lassen, wäre alles gut gewesen.«
Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus, und obwohl es im Lokal laut war, schienen sie den Lärm nicht zu hören.
Jennifer war es, die nach einer Weile das Gespräch abschloß: »Ich habe weder ein
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