Auf ewig und einen Tag - Roman
zwei zerknitterte Geldscheine enthielt (auf einem stand seltsamerweise in einer Kinderschrift Weizennudel ) und seinen Bootsführerschein. Am Boden des Umschlags befand sich eine dicke Silberkette, an der ein kleiner zylinderförmiger Schlüssel mit eingekerbten Rillen hing. Ich strich mit den Fingern über die Rillen, die sich rau anfühlten. Er gehörte Daddy, aber ich hatte ihn noch nie zuvor gesehen.
Ich streifte die Kette über den Kopf und spürte, wie sie mir kalt zwischen die Brüste glitt. Von dem Moment an trug ich sie Tag und Nacht und probierte den Schlüssel in allen Schlössern aus, angefangen von der Haustür bis hin zum Rollladen des Schreibtischs. Bei jedem Schritt schwang sie schwer auf meiner Brust wie eine Frage. Ich wusste, dass es irgendetwas gab - ein verschlossenes Tagebuch oder eine Schmuckschatulle -, das eine Antwort auf Daddys Traurigkeit und vielleicht seinen Tod enthielt. Die ganze Zeit, die ich sie trug, sagte ich Eve nichts davon - bis wir eines Tages entdeckten, wozu der Schlüssel passte.
Eve und ich redeten nicht viel über Daddy. Ich glaube, wir dachten, wenn wir nicht darüber redeten, könnten wir uns davor bewahren, ihm oder uns die Schuld zu geben. Aber ebenso wie der metallische Geruch des Winters oder die Feuchtigkeit in der Luft ließ uns sein Tod und die Frage nach der Verantwortung dafür nie los.
Eines Tages kam ich nach Hause und fand Eve auf der Vordertreppe sitzen, ihr Lächeln noch immer still und unnatürlich wie eine Wunde. Unschlüssig sah ich sie an. »Weißt du, was passiert ist?«, fragte ich. »Ich geh in die Stadt, und da taucht Ellen
Harte auf, sie sieht mich und fängt zu flennen an und nimmt mich in den Arm. Also steh ich da, den Kopf an ihre Titten gedrückt, und weiß nicht, was ich tun soll.«
Ohne etwas zu antworten, griff Eve in ihre Gesäßtasche und reichte mir einen Umschlag. Er war an unsere Mutter gerichtet, an eine Adresse in New York, die ausgestrichen und mit Adresse unbekannt überschrieben war. Der Poststempel war auf drei Tage vor Daddys Tod datiert.
»Er lag in seinem Schreibtisch«, sagte Eve. »Er konnte sie nicht finden. Er ist ihretwegen gestorben.«
Irgendetwas bebte in meiner Brust. Ich ließ den Brief fallen.
»Mach ihn auf.«
Ich schüttelte den Kopf.
»Mach ihn auf!«
Sie hob den Umschlag auf, zog eine Karte heraus, warf sie auf mich, und ihre Kante traf mich scharf an der Wange.
Ich fing sie auf und sah sie an. Es war ein Bild von einer Torte und ein Gedicht darauf: eine Geburtstagskarte. Im Innern stand in Daddys Handschrift:
Diana,
dieses Jahr habe ich Dir wohl nicht viel zu berichten. Außer dass es den Mädchen gut geht und sie so schnell zu Frauen heranwachsen, dass Du es kaum glauben würdest. In ein paar Jahren gehen sie fort, dessen bin ich mir sicher, und ich bin wieder allein. Ich war so lang nicht mehr allein, dass ich mir kaum vorstellen kann, wie das sein wird. Du weißt, wie sich das anfühlt, wie sie ein Teil von einem sind, trotz getrennter Körper, und wo führt das alles hin? Hinaus in die Welt mit ihnen vielleicht, obwohl ich mir das nicht vorstellen kann. Ich weiß, dass sie gute Menschen geworden
sind, und das ist es, worauf es ankommt. Aber das bedeutet nicht, dass wir uns nicht immer noch wünschten, Du wärst hier bei uns.
Wie immer
Thomas
Ich las die Karte wieder und wieder, bis die Buchstaben vor meinen Augen verschwammen.
»Dieses Jahr«, sagte Eve, »dieses Jahr gab’s also nichts Neues zu berichten.«
»Er hat ihr die ganze Zeit geschrieben. Die ganze Zeit?«
»Verdammter Lügner.« Eves Stimme klang dunkel und hohl und kam irgendwo tief aus ihrem Innern. »Sie segelt um die Welt, behauptet er. Sie wäre hier, wenn sie könnte, sagt er. Na ja, wir wussten doch immer, dass das Blödsinn war.«
»Aber sie wusste, wo wir waren.«
»Die ganze Zeit, die wir gewartet haben, wusste sie es. Wir waren wie diese dämlichen Schoßhündchen und dachten jeden Tag, sie kommt heim und führt uns aus.«
»Wir könnten sie finden, Eve. Ich bin sicher, wir könnten eine Postadresse finden.«
»Machst du Scherze? Wie erbärmlich wäre das denn, der eigenen Mutter nachjagen zu müssen?«
»Wenn sie vielleicht über Daddy Bescheid wüsste …«
»Was würde sie dann tun? Beschließen, dass sie sich doch einen Pfifferling um uns schert? Ehrlich gesagt, da bleibe ich lieber bei Bert und Georgia. Die tun wenigstens so, als wären sie Großeltern. Zumindest sind sie gekommen.«
Ich sah Eve eine
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