Auf ewig und einen Tag - Roman
keinen Charakter gegeben hatte.
LoraLee war nie verärgert, hatte nie Angst. Sie besaß weniger als jeder, den ich je gekannt hatte, schien sich jedoch nie nach Dingen zu sehnen, die sie nicht haben konnte. Selbst später, als die Zeit den Schmerz gelindert hatte, als Justin schon lange verheiratet
und seit Langem weg war, erschien mir dies als eine Art von Frieden, den ich wohl nie erreichen würde.
LoraLee stand auf und blies die Kerze aus, dann sah sie mich. Übers ganze Gesicht strahlend, öffnete sie das Fenster. »Kerry, Kind!«
Ich ging zu ihrem Eingang und wollte gar nicht reden, bloß in der Tür stehen und den honigartigen Duft von Bienenwachs und Kerzenrauch einatmen.
»Ich hab dich ja seit Tagen nicht mehr gesehen«, sagte sie.
Ich zuckte die Achseln. »Ich hatte Schule und alles.«
LoraLee sah mich lange an und zog schließlich die dichten Augenbrauen hoch. »Du brauchst eine Tasse Tee.«
»Mir geht’s gut.«
Sie nickte, ging zu ihrem Bücherregal und griff nach einem dicken Buch mit starren Seiten. Ich versuchte, über ihre Schulter zu sehen, aber sie räusperte sich und scheuchte mich weg. Sie strich mit dem Finger die Seite hinab, murmelte Wörter, klappte das Buch dann wieder zu und stellte es zurück. »Ich hab mir gerade das Rezept geholt. Du wartest am besten hier.«
Es war Das Buch . Ich hatte immer gewusst, dass sie eines haben musste und nicht alles aus dem Kopf wissen konnte. Und sie hatte es dort für mich zurückgelassen: glücklicher Zufall. Ich trat näher und lauschte ihren Küchengeräuschen: Schranktüren, eine Schere, die etwas abschnitt. Als ich das Mahlen des Mörsers hörte, den sie zur Zubereitung des Tees benutzte, griff ich nach dem Buch. Die vergilbten Seiten waren mit Rezepten gefüllt, mit Listen seltsamer Kräuter in schwungvoller Schönschrift. LoraLee ging hinaus, um Wasser zu pumpen, und ich blätterte die Seiten durch, entzückt über ihren intensiven Duft nach Staub und längst vergangener Zeit. Das Knistern der Bindung
und die Schneckenverzierung entlang der Ränder kündete von uralten Wahrheiten, und ich stellte mir vor, das Buch beobachtete mich beim Lesen, vermittelte mir stille Weisheit, gab Kraft in Form einer Wurzel, die über meinen Rücken hinab und in den Boden reichte.
Die Seiten trugen geheimnisvolle Überschriften wie »Bindung«, »Polarität« und »Schutz«. Dann einen Teil über Giftpflanzen, den ich möglichst schnell hinter mich brachte, als könnte selbst durch das Papier Tod sickern. Und dann der Teil, den ich suchte. Ich legte die Arme um mich und sah auf die erhabene Schrift.
In der Küche begann der Teekessel zu pfeifen, und ich stellte das Buch schnell ins Regal zurück. LoraLee kam mit einer dampfenden Tasse, die nach Himbeeren roch, in den Raum geschlurft. Nickend sah sie zu, wie ich den Tee trank, der auf dem hinteren Teil meiner Zunge bitter schmeckte. Meine Gedanken verschwammen von der Hitze des Dampfs, und mir schwirrte der Kopf vom Durcheinander der eben gelernten Zutaten.
»LoraLee«, sagte ich, »kannst du eigentlich zaubern?« Die Frage hörte sich irgendwie dämlich an, deshalb zog ich den Kopf ein und lachte gekünstelt. »Nein, so meine ich es eigentlich nicht.«
LoraLee lächelte. »In der Stadt sagen sie, ich sei eine Hexe.«
Ich riss die Augen auf. »Nein, das tun sie nicht.«
»Schon gut, Süße, ich weiß, was sie sagen, die Leute reden gern. Aber so was wie Magie gibt’s nicht.«
»Das weiß ich.«
LoraLee schüttelte den Kopf. »Aber vielleicht gibt’s so was wie formen. Du kannst dein Leben so formen, wie du willst, und du kannst Zaubersprüche sagen, damit es eintritt. Das ist es,
was ich tue. Das ist es, was sie Hexerei nennen. Und manchmal hört Gott mir zu, aber manchmal hat er auch Wichtigeres zu tun.«
Ich schlug einen beiläufigen Tonfall an. »Was meinst du genau mit Zaubersprüchen? Was für Zaubersprüche?«
»Sprüche eben, die die Dinge um dich verändern. Manche Leute kennen Sprüche, um Macht und Geld zu kriegen. Manche kennen Sprüche, die kranke Menschen gesund machen. Aber ich denke, dass es nicht so sehr Sprüche sind, die irgendwas verändern. Ich glaube, es ist das Wünschen und Wollen, was Dinge wirklich werden lässt.«
Ich nickte, spürte aber, wie mich plötzlich Enttäuschung ergriff. Ich sah LoraLee in ihrer Hütte aus zwei Kammern, die mit Sachen dekoriert war, die Leute weggeworfen hatten. Ich sah, dass ihr Kleid am Saum zerrissen war und an dem Kissen auf ihrem
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