Auf ewig und einen Tag - Roman

dehne sich aus und würde gleichzeitig leer, und ich hätte zu viel Platz um mich. Hey!, wollte ich rufen. Wartet auf mich! Durch die Milchglasscheibe der Haustür sah ich ihren verschwommenen Gestalten nach und hörte das Knirschen des Kieses in der Einfahrt, als der Wagen losfuhr. Ich sank auf die unterste Treppenstufe und versuchte, nicht darüber nachzudenken, was es bedeutete, dass sie mich am Tag nach meiner Ankunft allein zurückließ. Dann bemerkte ich den neuen Läufer in der Diele, der die Treppe hinaufführte. Ich befühlte ihn. Aus dem beigefarbenen Plüsch war jetzt ein beigefarbener Orientteppich geworden. Und er war sauber. Alle Blutflecken weg.
    Ich starrte darauf, und die Erinnerungen türmten sich auf wie säuberlich aufgeschichtete Dominosteine. Vor Langem aufgeschichtet,
perfekt arrangiert und unter Lagen von Staub verborgen. Doch jetzt lagen sie flach unter diesem neuen Teppich ausgebreitet, vor dieser Tür mit meiner Schwester dahinter.
    Ich berührte die Stellen, wo sein Blut gewesen war, ein Tropfen auf dem Absatz, ein Fleck auf der zweiten Stufe. Ich fragte mich, wie sie es all die Jahre und nach allem, was hier geschehen war, ertragen hatten, in diesem Haus zu leben. Aber mit einem Mal wurde mir klar, dass dies der größte Unterschied zwischen uns war. Während mich die Vergangenheit bis zu meinem Tod verfolgen würde, mussten Eve und Justin nichts anderes tun, als einen Teppich zu wechseln, um zu vergessen.

Oktober 1993

9
    Damals glaubte ich an Magie. Vielleicht tue ich das zum Teil immer noch. Ein Teil von mir glaubt, die Nacht unseres ersten Kusses sei magisch gewesen und die Krankheit danach die Strafe für das Eindringen in verbotenes Terrain, wie die blutenden Füße der kleinen Meerjungfrau. Ein geringer Preis, den es zu entrichten galt.
    In dieser Nacht tat ich kein Auge zu. Am Anfang war ich sicher, es seien meine kreisenden Gedanken, die mich so verrückt machten, doch als ich ins Badezimmer stürmte und mich vor Schmerzen krümmte, war klar, dass mehr dahinterstecken musste.
    Später, als ich mit der Wange an den Toilettensitz gelehnt dahockte, erinnerte ich mich an den Kuss (DEN KUSS!), und zwischen Anfällen von Brechreiz trat mir das Ganze klar genug vor Augen, dass mir schwindelte. Ich ließ es immer wieder vor mir abspulen, eine Million Mal. Was dachte Justin jetzt? Und warum rannte er weg? Aus Angst? Kränkung? Mitleid? Ich taumelte ins Schlafzimmer zurück und fiel aufs Bett. Eve drehte sich um und starrte mich an, ihr halb geöffneter gähnender Mund wie eingefroren.
    Übelkeit stieg wieder in mir auf, und ich zog die Knie an die Brust. Eve kniete sich neben mein Bett. »O Gott, Kerry, du … Was ist passiert?«
    Ich kniff die Augen zu und drehte mich zur Wand. Eve rannte zum Sekretär und kam mit einem Handspiegel zurück. Ich öffnete
die Augen, starkes Schwindelgefühl überkam mich, und als ich mich ansah, erkannte ich mich mit den dick geschwollenen Lippen und der hervorstehenden Zunge nicht wieder. Ich presste die Hände ans Gesicht.
    Eve setzte sich neben mich und strich mir leicht übers Haar. Ich stellte mir vor, ihre Hand sei Daddys Hand und dann die meiner Mutter, die gleichen langen Fingernägel und der gleiche zarte Duft, der vom morgendlich aufgesprühten Parfüm noch übrig war. Ich hörte ihre beruhigende Stimme und sah in ihre Augen, und dann, als wäre ich plötzlich über eine Kante gestolpert, fielen mir ihre Worte vom Tag zuvor wieder ein: Er hat vor, Leslie zu heiraten, weißt du. Ich erinnerte mich an ihren schräg gelegten Kopf und die gewisse Selbstzufriedenheit, mit der sie das sagte, und während ich mich auf einen winzigen festen Punkt im Nebelschleier meiner Übelkeit konzentrierte, starrte ich in Eves Augen und stieß ihre Hand weg.
     
    Am nächsten Tag brachte mich Mrs. Caine ins Medical Center. Dr. Bradley sagte, ich hätte eine allergische Reaktion und nahm mich in eines der fünf Betten des Centers auf. Er hängte mich an einen Elektrolyt-Tropf, gab mir eine Spritze mit Antihistamin, die mir den Kopf vernebelte und meine Zunge und meine Lippen wieder auf Normalgröße schrumpfen ließ. Justin wurde Stunden später eingeliefert.
    Als der Arzt fragte, was wir gegessen hatten, fiel mir nicht ein, was ich sagen sollte. Sollte ich sagen, dass wir verfaulte Pflanzen und Wurzelpulver gegessen hatten? Sie würden mich einsperren und den Schlüssel wegwerfen. Schließlich sagte ich, wir hätten »vielleicht nicht ganz durchgebratenes