Auf fremdem Land - Roman
Kenntnis nehmen, dass sich sogar ein Vierradantrieb keinen Weg dorthin bahnen konnte. Nach einer Serie von Lächeln, Händeschütteln, Verteilung von Visitenkarten und Verbeugungen stiegen sie wieder in den Toyota und steuerten ihn aus dem Hügelbereich, unter Hinterlassung einiger verwirrter Gesichter – doch nur vorübergehend, denn absonderliche Besucher gelangten beinahe täglich zum Hügel, und die meisten wurden schon wenige Sekunden, nachdem die letzten Auspuffgase ihrer Fahrzeuge in die Hügelluft entwichen waren, aus dem Gedächtnis getilgt.
Roni warf den Zigarettenstummel weg und hielt sich die drei Visitenkarten, die ihm die Japaner hinterlassen hatten, vor die Augen. Die japanischen Zeichen, mit denen die Karten bedeckt waren, sagten ihm gar nichts. Er drehte eine der Karten um und sah bekanntere Buchstaben in Englisch. Matsumata – Heavy Machinery Division, stand dort, zusammen mit einem japanischen Namen und Titel. Josh machte einen langen Hals und las es auch, dann zuckte er die Achseln und ging seines Weges. Roni stopfte die Visitenkarte in die Hosentasche und kehrte zu Gabis Wohnwagen zurück. Vielleicht sollte er Ariel bitten, im Internet zu recherchieren.
Der Köder
Nir Rivlin quälte sich. Der Vorfall mit Joni und Gittit, dessen Ohrenzeuge er geworden war und der nicht viel Raum für Phantasie ließ, peinigte, erregte und ekelte ihn, erfüllte ihn immer noch mit Scham und Neugier, auch ein paar Wochen danach. Er wusste, er müsste mit Otniel reden, aber was sollte er sagen? Dass er wie ein nichtswürdiger Spanner gelauscht hatte? Warum hatte er sie nicht aufgehalten? Und wie würde Otniel die Schande ertragen, das Wissen, dass er, Nir, Zeuge der Preisgabe seiner Tochter gewesen war? Nir dachte daran, mit dem Rabbiner in Ma’aleh Chermesch zu sprechen oder eine SMS an FRANS , die Beratungshotline des Rabbiners Aviner, zu schicken. Als er jedoch schon glaubte, eine Frage formuliert zu haben, zögerte er und überlegte es sich anders. Er hätte sich gern mit Scha’ulit beraten, doch die Lage daheim entgleiste zusehends, sie entfernten sich immer mehr voneinander, und die Gespräche zwischen ihnen waren auf das Allernötigste zusammengeschrumpft: Rechnungen, Kindergarten, Zeitplanung, Einkäufe. Über das, was mit ihnen geschah, sprachen sie nicht, wie also sollte er ihr einen großen moralischen Konflikt mitteilen?
Nir saß am Abend mit der Gitarre da und versuchte, ein Lied unter dem Eindruck des Vorfalls zu verfassen. Er schloss die Augen und versuchte, das Gefühl im Lagerschuppen heraufzubeschwören: der strenge, scharfe Geruch, die Hitze, die Stickigkeit. Was er gehört hatte.
In einem Würfel aus Holz, einem kleinen
Geruch von Farbe und explosiven Leimen
steht er allein und …
Er fand ein paar schöne Melodietakte, doch es gelang ihm nicht weiterzukommen. Seine Töchter weinten im Haus, aber er musste sich konzentrieren. Seine Hand wanderte unter die Hängematte auf der Suche nach der Schachtel mit dem Gras. Er dachte, es sei ein fertiger Joint darin, doch da war keiner. Tchelet brüllte drinnen. Scha’ulit rief: »Nir! Nir!« Er zupfte auf der Gitarre und versuchte, einen Reim für die dritte Zeile zu finden. Will weinen? Scheinen? Keimen? Er gab es auf und ging zu »I gave her my life« von den Kaveret über. Die Rufe verstummten und mit ihnen das Heulen. Ein guter Zeitpunkt, um hineinzugehen und zu fragen, ob alles in Ordnung sei. Er legte die Gitarre weg und ging ins Haus. Der Blick, den Scha’ulit ihm zuwarf – mit roten Augen, verzweifelt, anklagend –, erzählte ihm, was er bereits wusste. Er hatte schon um eine weitere Chance gebeten, hatte bereits versprochen, aufmerksamer zu sein, mehr zu helfen, sie mehr zu unterstützen. Doch es klappte nicht. Ihr Blick trieb ihn in die Flucht, zwang ihn zu sagen: »Ich geh auf einen Sprung zu Otniel, was Wichtiges«, sich umzudrehen und entschlossen die wenigen Meter zu dem Wohnwagen auf der anderen Straßenseite zu marschieren, an die Tür zu klopfen und zu sagen: »Otniel, ich muss dir was erzählen.«
Otniel erkannte die Panik in Nirs Augen, ergriff seinen Arm und führte ihn hinaus, zur Bank im Hof. Er bot ihm keinen Tee an, fing mit keinem Smalltalk an, drückte Nir bloß auf die Bank, setzte sich gegenüber und wartete. Nir öffnete den Mund und klappte ihn wieder zu, schloss die Augen, öffnete sie wieder und blickte seinen bärtigen Nachbarn an, und Gittits Gestalt stieg vor seinem geistigen Auge auf, und Joni, der
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