Auf fremdem Land - Roman
Zeit, nach der Synagoge diesen Betgesang zu hören, wenn die Familien um den Tisch saßen und den Schabbat empfingen. Aber die Stimme klang hell, nah. Kam nicht aus einem Haus, sondern aus einem Hof. Jemand saß im Hof und sang das Lied mit glockenreiner, hypnotisierender Stimme. Er sollte und wollte seine Nachbarn nicht heimlich belauschen und einer Frauenstimme zuhören, wollte sich nicht ablenken lassen aus der Einheit mit seinem Herrn und von seinem Weg zur eigenen Schabbatweihe. Doch etwas an der Stimme nagelte seine Füße am Boden fest und ließ ihn gespannt lauschen. Sie hatte nicht die Absicht, ihre Stimme in der Öffentlichkeit hören zu lassen, sie sündigte nicht, sie sang mit einer kleinen, süßen Stimme, wie für ein Baby. Er blickte sich um in der tiefen Dunkelheit und schloss sich im Herzen dem Gesang an.
Es war das Haus der Rivlins, und es war Scha’ulit, die wahrscheinlich Zebuli etwas vorsang. In der Synagoge war ihm aufgefallen, dass sie anders aussah, doch er hatte nicht erfasst, dass es das gelöste Haar war, der Verzicht auf die Kopfbedeckung der verheirateten Frauen. Er sagte sich, genug, geh jetzt nach Hause, doch in diesem Augenblick ertönte ein Schrei aus dem Haus und danach: »Mami! Mami!«, und dann erfolgte ein zweiter Schrei: »Mami, Hilfe! Wo bist du?!«
Scha’ulits Töchter weinten und brüllten, und ihre Mutter schrie: »Amalia? Tchelet? Was ist los? Was ist? Kommt her, ich bin draußen!«
»Mami, komm her, Hilfe!« Lautes Weinen.
»Was ist denn los? Ich kann nicht, ich stille Zebuli draußen, nur einen Moment. Beruhigt euch und erklärt mir, was passiert ist.«
»Mamimami«, kam wieder das doppelte Geheul von drinnen, und dann steigerte es sich um einen weiteren, spitzen Schrei.
»Oi«, sagte Scha’ulit, und nun fing Zebuli zu weinen an. Scha’ulit beruhigte ihn, das Geschrei dauerte an. Gabi blickte sich in der ruhigen Siedlung um, die schläfrig den Schabbat empfing. Er ging durch das Hoftor hinein.
»Schschsch … Zebuli, nur einen Moment …«, versuchte Scha’ulit das Baby zum Schweigen zu bringen. Sie hörte ein Geräusch und hob überrascht den Kopf. Gabi murmelte: »Schabbat schalom«, und eilte schnurstracks zu den brüllenden Mädchen hinein.
Beim zweiten Mal, als Gavriel »Friede mit euch, Engel des Dienstes« an jenem Abend zu hören bekam, war Scha’ulits Stimme nicht scheu und bescheiden, sondern stark und gefühlvoll, unterstützt von den Stimmen ihrer lächelnden Töchter und der seinen. Er schloss die Augen, um all seine Sinne auf die schönen Stimmen zu fokussieren, die weitersangen vom König aller Könige und seinen Engeln, und als er sie wieder aufschlug, gewahrte er, wie hübsch Amalia und Tchelet waren, sie hatten genau die gleichen Augen wie ihre Mutter, und als sie bei »Wer ein biederes Weib gefunden« ankamen, konnte er nicht mehr an sich halten und richtete seinen Blick direkt auf jene Augen. Sie hatte darauf bestanden, dass er blieb. Gesagt, dass es einen freien Platz am Kopfende des Tisches gebe und dass man den Wein und das Brot segnen müsse, und wenn er keine anderen Pläne habe, wenn man nicht auf ihn warte – die Mädchen seien noch aufgewühlt von dem Insekt und bestimmt froh über seine beruhigende Gegenwart.
Das Insekt: eine haarige, vielbeinige Kreatur von der Länge eines Fingers und leuchtend phosphorgelb. Der Hügel war voll von eigenartigen Lebewesen, jedes Kind wusste das, doch dieses war wirklich außergewöhnlich – Gavriel war in all seinen Jahren auf dem Hügel noch nie auf so etwas gestoßen, und sogar er, Männlichkeit hin oder her, schreckte zurück. Das Insekt scharrte in einer Ecke des Zimmers, zu nahe an der Puppe Schoschanna, die an der Wand lehnte und wirkte, als wäre sie in seine Fänge geraten. Seine Fühler tasteten hysterisch umher, und ab und zu setzte es zu Fluchtbewegungen an, die mit einer Salve von Schreien der beiden Schwestern vom Bett aus beantwortet wurden, die mit Tränen in den Augen ihre Kissen umklammerten. Gavriel hatte die Kreatur mit einem ausholenden Tritt zerquetscht, und als Erretter aus Lebensgefahr war er zum Schabbatabend gebeten worden. Nun war er bewegt von der bescheidenen und warmherzigen Familienatmosphäre. Er war in der Vergangenheit des Öfteren bei Familien am Hügel eingeladen gewesen, hatte bei Chilik und Nechama Jisraeli, bei Otniel und Rachel Asis sowie bei anderen Familien gegessen, von denen ein Teil schon nicht mehr am Hügel war, doch seit Roni gekommen war, war er
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